Was sagen eigentlich die ayurvedischen Autoritäten über Sexualität? In der Ayurveda-Literatur finden wir auf den ersten Blick sehr widersprüchliche Aussagen zum Thema Sinnesfreuden. In den meisten Fällen finden sich physiologische Erklärungen für die beschriebenen Empfehlungen oder Verbote. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass auch Ayurveda immer wieder – und das bis heute – von Priesterkasten dominiert wurde. Sie brachten ihre Moraltheologie natürlich mit ins Spiel. Doch das ist meiner Meinung nach falsch, denn „Vedanta“ – das höchst spirituelle aller philosophischen Systeme – befürwortete schon immer ein Miteinander von Sinnlichkeit und reiner Spiritualität.
Die Pfade des Handelns und der Enthaltung
Vedanta nennt zwei Wege zur Erkenntnis: Erstens den Pfad des Handelns, der Sinnesfreuden einschließt (Pravritti Marg), und zweitens den Pfad der Enthaltung (Nivritti Marg). Der eine Pfad führt über eine gesunde Sättigung der Sinne zu sich selbst und der andere durch Loslösung. Dass jeder Mensch seinen Weg finden soll und darf, gehört seit eh und je zu den Grundlagen des vedischen Gedankengutes und ist ein Grundrecht jedes Individuums. Diesem offenen System sollten wir uns als Ayurveda-Ärzte und Therapeuten verpflichten und nicht irgendwelche Dogmen folgen, die schwer nachzuvollziehen sind.
Doch warum empfinden auch heute noch viele aufgeklärte Menschen Sex als etwas Schmutziges, Unmoralisches oder sind sehr schamhaft? Kürzlich meinte ein Patient zu mir: „Über Sexualität spricht man nicht, man tut es.“ Das ist jedoch eine Einstellung, die bei Problemen wenig hilfreich ist. Denn täglich stelle ich in meiner Praxis fest, dass Sexualität sowohl bei Gesundheit wie auch Krankheit eine wichtige Rolle spielt.
Moraltheologie beeinflusst die Sexualität seit Jahrhunderten
Ein Grund für das Tabu mag in der europäischen Geschichte der Moraltheologie liegen: Die karolingische Renaissance (8. bis Mitte des 9. Jahrhunderts) war wohl der letzte Versuch weltlicher Bildung, Kultur und Lebensfreude. Danach gewann der Klerus die Oberhand – und so gerieten Erotik und Sexualität für über 1000 Jahre unter das Joch des kirchlichen Dogmas. Von nun an galt Thomas Aquins Faustregel der Sexualethik: 1. mit dem richtigen Partner (dem Ehepartner), 2. auf die richtige Art (in der Missionars-Stellung) und 3. zum richtigen Zweck (zur Zeugung).
Sexualität und „Wissenschaft“
1790 landete der Lausanner Arzt Samuel-Auguste Tissot mit seiner „wissenschaftlichen“ Abhandlung „L’Onanisme“ über die angeblich fatalen Folgen der Selbstbefriedigung einen Bestseller und läutete damit die für 150 Jahre dauernde Antimasturbations-Kampagne ein. Die Angst vor dem „Masturbationswahnsinn“ wurde bis ins 20. Jahrhundert zum beherrschenden Thema der Gesundheitsvorsorge. Noch weiter ging der ungarische Arzt Heinrich Kaam. Er veröffentlichte 1824 in Leipzig seine „Psychopathia sexualis“. In ihr wurden die Sündenvorstellungen des Christentums in medizinische Diagnosen umgewandelt. Die ursprünglich theologischen Schimpfwörter Perversion, Aberration und Deviation wurden so erstmals Teil der Wissenschaftssprache.
Der österreichische Psychiater Richard von Krafft-Ebing schrieb in seiner bis 1924 überarbeiteten Version der „Psychopathia sexualis“ das von der Moraltheologie übernommene Dogma: „Als pervers muss jede Äußerung des Geschlechtstriebs erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, das heißt der Fortpflanzung entspricht.“ Alles andere wird als krankmachend empfunden.
Verschiedene Experten brachten in der Vergangenheit seltsame Argumente und scheinbare Kontroversen hervor: Sushruta, ein indischer Arzt, der wahrscheinlich im frühen 6. Jahrhundert lebte, beschrieb unter anderem die Neigung zu Voyeurismus und Oralsex als Folge von defektem Shukra (Fortpflanzungsgewebe) und war der Meinung, dass diese zu weiteren Defekten im Erbgut führten.
Ungünstige Bedingungen bei Kinderwunsch
Unter den Kontraindikationen für Paare mit Kinderwunsch, die von verschiedenen klassischen Autoren des Ayurveda aufgeführt werden, finden sich: Überessen, Hunger, Durst, Angst, Aversion (für den Partner), Wut, Trauer, Eifersucht, Sehnen nach einem anderen Partner, gegen den Willen, ohne Lust, exzessive Lust, Krankheit, Inzest, Menstruation, Schwangerschaft, zu jung, zu alt, in der Dämmerung, um Mitternacht, bei Eklipse, an unsauberen und unglücksverheißenden Zeiten und Orten oder bei ungeeignetem psychologischem Status des Paares.
Sexualität während der Menstruation
In alten Schriften (von Caraka bis Bhavamishra) findet sich zudem die physiologische Erklärung, warum Sex während der Menstruation nicht empfohlen wird. Während dieser Zeit ist der natürliche Schutzmechanismus im vaginalen Trakt reduziert, und „Apana Vata“ – ein nach unten gerichteter Kraftstrom des Körpers – hat die Aufgabe, das Menstruationsblut und mit ihm abgestoßene Teile des Endometriums sicher zu entfernen. Dieser natürliche Reinigungsprozess sollte weder durch heftige Penetration noch durch intensive Stimulation gestört werden. Das ist aber kein generelles Verbot für Sex und Erotik. Darum sind die Vorstellungen der brahmanischen Kasten, dass die Frau während der Menstruation unrein sei, nicht den Tempel besuchen oder im Bett des Mannes schlafen darf, unsinnig.
Sexuelles Verlangen als eines der vier Lebensziele
Eine andere Vorstellung ist das Konzept von Ativyavaya (exzessiver Sex), ein wichtiges Konzept in der Pathologie. Damit ist nicht eine moralisch bezogene Einschränkung gemeint, sondern passende Sexualität zur passenden Zeit, angepasst an die Konstitution, das Lebensalter und die Jahreszeit. Im Ayurveda gehören zu dem Lebensziel „Kama“ auch die Sinnlichkeit und ihr Genuss.
Gefahr in der Enthaltsamkeit
Schließlich existiert noch der Irrglaube aus dem Tantra und einigen Yogaschulen, welcher mit dem Konzept von Shukra (Fortpflanzungsgewebe) und Ojas (Lebensenergie) untermauert wird. Danach soll ein Mann beim Sex keinen Samenerguss haben oder diesen möglichst lange hinauszögern. Schon Caraka konstatierte: „Das Unterdrücken der natürlichen körperlichen Bedürfnisse – dazu gehört auch der Samenerguss und Sexualität – führt zu diversen Krankheiten“. Bhavamishra ging noch einen Schritt weiter und sagt: „Im menschlichen Körper entsteht der Wunsch nach Sex jeden Tag. Eine Abstinenz führt zu Diabetes, Übergewicht und Muskelschwund.“
Wer hat nun Recht? Erstens möchte ich den keuschen Yogis mitteilen, dass eine körperlich sexuelle Abstinenz weder automatisch zu einer Zunahme von Shukra noch von Ojas führt. Zudem existieren drei Arten von Sex, die zum Verlust von Ojas führen: 1. daran zu denken, 2. darüber zu sprechen und 3. es zu tun. Natürlich schützen zwei von ihnen immerhin vor Geschlechtskrankheiten und ungewollter Schwangerschaft. Der Prozess der Umwandlung von Shukra zu Ojas ist äußerst komplex – und sicher nicht mit körperlicher Abstinenz allein erledigt.
Ayurveda verbietet grundsätzlich niemandem etwas, sondern zeigt Mittel und Wege auf, damit jede und jeder sein Grundrecht auf Sexualität leben und davon gesundheitlich profitieren kann.
Wie Sexualität und Erotik zum individuellen Wohlbefinden beitragen
Der Schweizer Hans Rhyner ist ein Ayurveda-Pionier. Er gehörte zu den ersten in Europa, die sich intensiv mit der ältesten Naturheilkunde der Welt beschäftigten und sein Erfahrungsschatz ist groß. Rhyners Texte zum Thema Sexualität sind für viele provokant oder wenigstens streitbar – auch wenn sie sich zunächst auf die alten Ayurveda-Schriften beziehen.
Ein besseres Immunsystem, mehr Lebensqualität, Verjüngung und sich jung fühlen. Wer wünscht sich das nicht? Und es scheint so einfach: mehr guten, liebevollen Sex. Denn das menschliche Wohlergehen hängt mit einer erfüllten Sexualität direkt zusammen. Dass es jedoch nicht so einfach umzusetzen ist, das Erotikleben zu optimieren, kann jeden Tag in deutschen Arzt- oder Ayurvedapraxen gehört werden.
Ein Beispiel
Neulich in meiner Praxis: Eine 37-jährige Frau fragt mich bei der Konsultation, ob Zysten, problematische Gesichtshaut und Haarausfall mit dem Hormonhaushalt zu tun haben könnten. – „Ja sicher stehen diese Symptome in Zusammenhang mit den weiblichen Hormonen“, antworte ich.
Der Fall ist eindeutig: Sie sind eine Akademikerin mit Pittakapha-Konstitution, verschieben ihre ganze Energie in die Kopfregion, Sie leben als Single, sind Abends so erschöpft, dass sie nicht unter die Leute gehen und auch keine Energie oder Zeit finden, Sport zu treiben. In der unteren Körperregion passiert rein nichts. Dafür sprechen auch ihre chronischen Blasenentzündungen.
Was also tun wir? Synthetische Hormone sind sicher keine Lösung, sondern rufen nur noch mehr Beschwerden auf den Plan. Die Empfehlungen des Ayurveda sind handfest: Eine stimulierende Partnerschaft kann sämtliche oben aufgeführten Beschwerden beseitigen.“
„Ich würde ja gern einen Partner haben, aber in meiner Altersgruppe sind alle Männer vergeben!“, erklärt sie. „Dieses Argument höre ich eben so oft von Männerseite“, antworte ich. „Es gibt genau so viele Männer, die verzweifelt eine feste Partnerin suchen, wie Frauen. Leider kann ich Ihnen keine Verordnung für einen Partner ausstellen, mit der Sie dann in der Apotheke einen Partner abholen können.“ – „Ja, aber Sie könnten eine Ayurveda-Partnerschaftsagentur ins Leben rufen“, erwidert sie schlagfertig.
Sexualität fürs Wohlbefinden
Das ist nicht unbedingt meine Aufgabe. Aber Recht hat meine Klientin insoweit, dass es Bedarf dafür gibt. Nicht nur Singles suchen nach einem passenden (Sexual-) Partner. Viele Frauen und Männer, die sich in festen Bindungen befinden, leben, was Erotik und Sexualität angeht, auf Sparflamme. Was in den Schlafzimmern der Nation passiert, entspricht oft nicht den sexuellen Wünschen und Bedürfnissen der Individuen.
Das jedenfalls höre ich oft – und seit rund 30 Jahren in meiner Praxis. Es geht nicht um die alte Hippie-Doktrin make love not war, von der meine Generation für kurze Zeit getragen wurde. Nicht um Normen und soziale Gepflogenheiten. Es geht um Wohlbefinden auf körperlicher wie emotionaler Ebene.
Wenn der große, indische Philosoph und Asket des 8. Jahrhunderts Shankaracharya deklariert, dass nur, wenn Shiva (das Männliche) sich mit Shakti (dem Weiblichen) vereint, beide ihr wirkliches Potential entfalten können, und dass wenn diese Vereinigung nicht stattfindet, Shiva nicht einmal in der Lage ist, zu zittern – so zeigt der Denker, wie Sexualität die schöpferische Kraft im spirituellen wie im materiellen Kosmos antreibt. Sex fesselt alle Sinne, alle Emotionen, mobilisiert alle immunisierenden Kräfte und führt uns unserer Bestimmung zu.
Sexuelle Energie im Fluss
Die menschliche Sexualität widerspiegelt die Polarität der universellen Kräfte, welche gleichzeitig ihre Dynamik ausmachen. Eine Schwächung der sexuellen Energie durch Unterdrücken oder Mangel führt oft zu tiefsitzenden Frustrationen. Männer entwickeln in solchen Situationen teils Wut und Gewaltbereitschaft, während Frauen eher zu Ängsten und Depression neigen.
Unsere Zufriedenheit und Glücksgefühle hängen von der optimalen Balance der weiblichen und männlichen Kräfte in uns ab. Sie werden symbolisiert durch Mond und Sonne, Wasser und Feuer, der linken und rechten Körperseite, den „großen“ Körperströmen von Ida (weiblich) und Pingala (männlich). Die beiden sexuellen Energien wurzeln tief in uns.
Die Restriktionen betreffend Art und Häufigkeit von Geschlechtsverkehr bezieht sich in der Sexualmedizin des Ayurveda immer auf die ganzheitlich gesundheitlichen Aspekte von Frau und Mann sowie auf Nachkommenschaft. Es geht in keinem Fall darum, jemandem das Grundrecht auf Sexualität einzuschränken, sondern aufzuzeigen, was die Folgen einer Aktivität sind – und wie eventuell unerwünschte Wirkungen ausgeglichen werden können.
Doshas und Sexualität
Wenn – wie oft missinterpretiert wird – Vata-Konstitutionen im Gegensatz zu den glücklichen Kapha-Menschen angeblich möglichst wenig Sex haben sollten, dann ist damit gemeint, dass der Verlust von Körperflüssigkeiten bei Vata-Typen ein Problem darstellen kann, während bei Kapha-Typen dieser Verlust von Vorteil ist.
Nun kann ein Vata-Paar diesen Verlust mit einer passenden Mahlzeit und Getränken ausgleichen. Und wenn die Sommerhitze die Libido erstickt, so macht man vielleicht einen Ausflug an einen kühlenden Bergsee oder nimmt ein kaltes Bad. Der Kreativität und Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
In den Kapiteln der alten Ayurveda-Schriften über Tagesroutine (Dina Caryadi Prakarana) finden sich Hinweise über den gesundheitlich Nutzen von Sex:
- „Frische Nahrungsmittel, Speisen angereichert mit Milch und Ghee sowie Sex – diese sechs Aktivitäten mobilisieren unmittelbar mächtige Kräfte.“
- „Im Winter sollten Paare jede Nacht aneinander kuscheln und Sex haben; im Frühjahr und Herbst nach Konsum von Libido steigernden Mitteln alle zwei bis drei Tage; während der großen Sommerhitze (über 32 Grad Celsius), wenn der Körper unter Wassermangel leidet, nur noch alle 2 Wochen.“
- „Der Wunsch nach Sex manifestiert sich im Menschen jeden Tag. Wenn diesem Verlangen nicht Folge geleistet wird, entwickeln sich gesundheitliche Störungen.“
Gesunde Sexualität für Körper und Geist
Zu den Kontraindikationen führen die Klassiker Folgendes an
„Keine Penetration, wenn der Menstruationsfluss aktiv ist – weil damit der Reinigungsprozess der weiblichen Organe gestört wird; nicht mit einem unwilligen oder nicht stimulierten Partner; nicht ohne Liebe und Zuneigung; nicht bei Krankheiten, insbesondere der Geschlechtsorgane; nicht mit einem völlig Unbekannten; nicht an einem öffentlichen Ort; keine Penetration in den ersten Monaten der Schwangerschaft; nicht hungrig, durstig, mit voller Blase oder Darm; nicht bei Ängsten, Trauer, Schmerzen. Samenfluss, der einmal begonnen hat, darf nicht unterdrückt werden; gleiches gilt für Orgasmen. Wer diese Regeln befolgt wird in dieser und der nächsten Welt Erfüllung finden.“
Das sind natürlich hohe Ansprüche
Kreativität und gegenseitige Rücksichtnahme sind gefordert, Planung einer romantisch stimulierenden Atmosphäre und Umgebung sind angesagt, fit sollte man sich fühlen und liebevoll zurechtgemacht sein. Das sind für mich die Eckpfeiler einer aktiven Sexualität. Man sollte nicht nur seine Freizeitgestaltung minutiös und aufwendig planen und Sex dem Zufall überlassen.
Legen Sie Ihre Hemmungen ab und fordern Sie Ihre sexuellen Freuden ein. Das ist der Zündstoff für ein langes, gesundes Leben und zufriedenem Selbst. Meditation und Spiritualität setzen ein erfülltes sinnliches Leben voraus. Nur wer satt ist, denkt nicht ans Essen – wird frei davon.
Heft 37 – Panchakarma
Panchakarma, die Königskur des Ayurveda! Verspricht sie auch heilsame Wirkungen ist es eine Herausforderung für die Persönlichkeit. Ob im trauten Heimatland oder am Ursprung der indischen Lebenslehre verrät Ihnen unsere neuste Ausgabe!