Sie wird immer populärer. Als drittes großes asiatisches Medizinsystem erfreut sich die Tibetische Medizin in den vergangenen Jahren zunehmender Beliebtheit. Im Vergleich zu Ayurveda und Chinesischer Medizin ist Sowa Rigpa, „das Wissen oder die Wissenschaft vom Heilen“, in Europa jedoch noch nicht so bekannt.
Im Laufe ihrer Geschichte war die Tibetische Medizin immer wieder Einflüssen der beiden anderen Medizintraditionen ausgesetzt. Zahlreiche chinesische und vor allem ayurvedische Medizintexte wurden ins Tibetische übersetzt. Zu den Zeiten des großen kulturellen Austauschs auf der Seidenstraße hat die Tibetische Medizin besonders auch Kenntnisse aus der arabisch-persisch-griechischen Medizin in sich aufgenommen.
Vor dem Hintergrund traditionell gewachsenen Heilwissens, angepasst an die Lebensbedingungen in teils großer Höhe und vor allem auf Basis des Buddhismus hat sich die Tibetische Medizin zu einem eigenständigen, einzigartigen Medizinsystem entwickelt. Ihr klassisches Grundlagenwerk, das Gyü-shi, die vier Medizin Tantras, wurde im 12. Jahrhundert von dem berühmten tibetischen Arzt Yuthok Yonten Gampo zusammengestellt und bildet den Kern des traditionellen Medizinstudiums.
Als Gyü-shi-Tradition hat sich die Tibetische Medizin von Tibet ausschließlich in die angrenzenden Himalayaländer wie beispielsweise Ladakh, Bhutan, Nepal und über die Mongolei bis hin nach Sibirien an den Baikalsee verbreitet, wo sie heute noch als Sowa Rigpa praktiziert wird. Dabei umspannt sie verschiedene Klimazonen, hat sich vielerorts an die lokalen Gegebenheiten angepasst, sodass sich in der heutigen Praxis von Sowa Rigpa eine große Vielfalt mit vielen verschiedenen Heilpflanzenrezepturen ausdrückt. Ihre Rezeptionsgeschichte im Westen zentriert sich im Wesentlichen auf die vergangenen 20 Jahre. Dabei hat sie ihren ganz eigenen Weg genommen.
Die Hauptkonzepte der tibetischen Medizin
Die Tibetische Medizin basiert auf einer ganzheitlichen Drei-Säfte-Lehre (tibetisch Nyepas).
Die drei Prinzipien / Säfte rLung (Wind), Tripa (Galle) und Bedken (Schleim) repräsentieren funktionell und energetisch unter anderem die Eigenschaften von Wärme, Flüssigkeit und Bewegung im Organismus. rLung ist der Träger des Geistes und die bewegende Kraft, Tripa reguliert die Körpertemperatur, vor allem in allen Verdauungs- und Stoffwechselvorgängen und Bedken versorgt den Körper mit Feuchtigkeit, Geschmeidigkeit und Stabilität. Alle drei Prinzipien haben jeweils körperliche, funktionelle und emotionale Manifestationen.
Das eigentliche Herzstück der tibetischen Medizin ist jedoch ein tiefgreifendes „Mind-Body-Konzept“, das seinen Ursprung in buddhistischem Denken hat. Dem buddhistischen Geist-Konzept kommt hierbei besondere Bedeutung zu.
Körper und Geist bilden während des Lebens eine untrennbare Einheit. Der Geist gilt als Ursprung allen Lebens, aller Phänomene. Die „Unwissenheit“ des Geistes (Marigpa) gilt als entfernte Krankheitsursache. Aus der Unwissenheit entstehen die drei Grundcharakteristiken des Geistes (buddhistisch drei Geistesgifte) Gier, Hass und Verblendung. Diese verursachen die Manifestation der drei Säfte. In der Tibetischen Medizin zeigt sich so ein psychosomatisches Menschenbild, in dem der Geist in alle Aspekte des menschlichen Seins hineinwirkt und die drei Säfte auch durch entsprechende einseitige Geisteshaltungen ins Ungleichgewicht geraten können.
Das Ungleichgewicht zeigt sich in entsprechenden Störungen. Die materiellen Bausteine des Lebens und damit auch der drei Säfte selbst sind die fünf Elemente Wind, Feuer, Wasser, Erde und Raum. Ihr Vorhandensein ist essentiell für die Entstehung neuen Lebens und damit in der embryonalen Entwicklung.
Eine zentrale Kraft im Körper ist medrod, die Verdauungshitze. Sie reguliert den natürlichen Ablauf der Verdauung und damit auch den weiteren Verlauf aller Stoffwechselvorgänge bis hin zur Transformation und Bewahrung aller Körperbestandteile. Eine gesunde Verdauung ist daher der Pfeiler für jede Gesundheitsvorsorge. Anders gesagt: Für viele Krankheitsbilder ist eine Störung im Verdauungsprozess hauptverantwortlich. Ernährungsberatung und Therapien zur Regulierung der Verdauung haben einen entsprechend hohen Stellenwert in der Tibetischen Medizin.
Sowohl äußere Faktoren wie Klima und Jahreszeiten als auch innere Faktoren wie unsere Ernährungsweise, Lebensgewohnheiten, aber vor allem auch unsere geistige Haltung, beeinflussen das Gleichgewicht der drei Säfte. Diese Dreiteilung durchzieht die gesamte Medizintheorie, Diagnostik und Praxis der Tibetischen Medizin sowie die Konstitutionslehre als Fundament aller präventiven Maßnahmen.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
In diesem Entsprechungskosmos einer Drei-Säfte-Lehre der Tibetischen Medizin und ihrer ganzheitlichen Sichtweise auf den Menschen und seine Gesundheit finden sich zahlreiche Gemeinsamkeiten zum ayurvedischen Denken. Diese Übereinstimmungen verwundern nicht, da ayurvedische Texte bereits früh vor allem zusammen mit dem Buddhismus nach Tibet gelangten. Beide Medizinsysteme begreifen Krankheitssymptome und Erkrankungen als Zusammenspiel aus inneren und äußeren Ursachen unter Berücksichtigung der individuellen Konstitution, Lebensweise, Jahreszeit oder des Lebensalters.
Sie teilen auch grundsätzliche Therapieprinzipien. Als Beispiele seien hier etwa die fünf Elemente und sechs Geschmacksrichtungen als eine wichtige Basis der Ernährungs– und Arzneimittellehre erwähnt, oder auch die Betonung der Regulation des Verdauungsfeuers mit entsprechenden therapeutischen Konsequenzen wie beispielsweise Reinigungskuren.
Es finden sich jedoch auch viele Unterschiede beider Medizinsysteme. Ein wesentliches Fundament der Tibetischen Medizin ist die spirituell-kulturelle Einbettung in den Buddhismus. Daraus ergibt sich eine sehr spezielle Sichtweise auf die eigentlichen Krankheitsursachen.
Die Unwissenheit als entfernte Krankheitsursache gehört zur menschlichen Existenz, entsprechend sind auch Krankheiten Bestandteil des Lebens.
Die spirituelle Einbettung in den Buddhismus wird auch in der ethischen Haltung des tibetischen Arztes deutlich. Hier liegt der Schwerpunkt auf der altruistischen Kultivierung des allumfassenden Mitgefühls allen leidenden Wesen gegenüber. Der Patient wird in Liebe und Mitgefühl behandelt. In der traditionellen Praxis ist eine spezielle Medizinbuddha-Praxis essentiell. Darüber hinaus existieren spirituelle Traditionen, in denen die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit selbst zur spirituellen Praxis werden kann.
Vor allem unterscheiden sich Ayurvedische und Tibetische Medizin aber auch in der Schwerpunktlegung und in Eigenheiten ihrer Praxis. Puls- und Zungendiagnostik sind bereits früh detailliert in tibetischen Medizintexten verankert und neben einer ausführlichen Anamnese Schwerpunkt im Patientenkontakt. Die sehr elaborierte Urinanalyse ist eine Spezialität der Tibetischen Medizin.
Die speziellen äußeren Therapien sind vor allem Moxibustion (eine punktuelle Wärmetherapie), Horme (eine spezielle sanfte Wärmetherapie), Aderlass, Massage, Packungen, Schröpfen und medizinische Bäder.
Eine kulturelle Einzigartigkeit der Tibetischen Medizin sind die berühmten medizinischen Illustrationen aus dem 17. Jahrhundert. 79 Medizinthangkas (Rollbilder) zeigen die wesentlichen Aspekte aus Medizintheorie, Diagnostik und Therapie.
Fazit
Tibetische Medizin und Ayurveda teilen fundamentale Entsprechungssysteme wie beispielsweise die Physiologie und Pathologie einer Drei-Säfte-Lehre, den individuellen Ansatz einer Konstitutionsmedizin, die Schwerpunktlegung auf Verdauungsregulation und Ernährungslehre. Im Vergleich ergeben sich spannende kulturellspirituell gewachsene individuelle Ausprägungen, die zu eigenständigen Medizinsystemen geführt haben. In der Praxis lassen sie sich daher mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten sehr gut kombinieren und können sich gegenseitig ergänzen.
Heft 41 – Die Hausapotheke
Das Ayurveda Journal beschäftigt sich als Titelthema in Heft 41 mit ayurvedischen Kräutern und Gewürzen für die Hausapotheke.