Rückenschmerz ist eine Volkskrankheit, zwei Drittel der Deutschen leidet darunter, über zehn Prozent sogar täglich. Die medikamentöse und physiotherapeutische Behandlung ist langwierig, kostenintensiv, kompliziert und löst häufig das Problem nicht. 80 Prozent der Patienten kommen wieder. Aufgrund deutlicher Einschränkung der Lebensqualität suchen immer mehr Betroffene alternative Heilverfahren und stecken große Hoffnung in diese. Seit Jahren rückt die Ayurvedamedizin zunehmend in diesen Fokus und weist dabei sehr gute Ergebnisse auf. Doch wie diagnostiziert und therapiert der Ayurveda Rückenschmerzen? 

Allgemeine Physiologie und Pathophysiologie 

Im Ayurveda geht man davon aus, dass alle Prozesse in Körper und Geist von dem Zusammenspiel dreier Energien, den sogenannten drei Doshas, kontrolliert werden. Dabei ist das Dosha Vata für Bewegung und Regulation, das Dosha Pitta für Wärme, Farb- und Energieumwandlung und das Dosha Kapha für Stabilität und Substanzbildung verantwortlich. 

Im Gesundheitszustand sind die Doshas in einem harmonischen Gleichgewicht. Dann können alle Gewebe richtig ernährt werden und ihre Funktion wahrnehmen. 

Die Harmonie der Doshas wird durch viele innere wie äußere Faktoren beeinflusst. Dabei spielen Lebensgewohnheiten, Verhaltensweisen und Denkmuster ebenso eine Rolle wie die Art und Intensität einer Therapie oder Verletzung und Verlust von Gewebe. 

Kommt es zu einem Dosha-Ungleichgewicht, wird ein Dosha zunächst quantitativ, später auch qualitativ verändert. Dann werden die Gewebe nur noch inadäquat ernährt, es kommt zu funktionellen Defiziten, die zunehmend auch strukturelle Veränderungen nach sich ziehen. 

Auf einem Korbstuhl am Fenster sitzt eine Frau mit leicht gelockten, braunen Haaren. Sie hat die Augen geschloßen.

Rückenschmerzen in ayurvedischen Beschreibungen 

In den klassischen ayurvedischen Schriften werden 80 Erkrankungen beschrieben, die vor allem durch ein Übermaß des Dosha Vata verursacht sind. 

Eine dieser sogenannten Vatavyadhis (Vata-Krankheiten) ist der Kreuzschmerz. Er wird Katigraha genannt und wie folgt beschrieben: 

„Wenn Vata in der Lendenregion …. Schmerz produziert, nennt man die Erkrankung Katigraha. Wenn die Therapie dieser Erkrankung verzögert wird, kann Pangu entstehen, das Lahmwerden der Beine“.  Schon zu klassischen Zeiten war bekannt, dass Rückenschmerz sich zu einer Lähmung auswirken kann. Auch die Lumboischialgie wird im klassischen Ayurveda als Erkrankung durch Vata unter einem eigenen Namen, Grdhrasi, beschrieben. 

Ayurvedische Therapie von Rückenschmerz (Katigraha)

Da die Erkrankung primär durch die Überaktivität des Vata Dosha verursacht wird, zielt die ayurvedische Therapie darauf, Vata wieder zu reduzieren. Dabei werden verschiedene Verfahren eingesetzt. 

Ursachenbekämpfung – Nidana-Parivarjana 

Zunächst wird versucht, durch eine gründliche Anamnese Ursachen der Erkrankung im Leben des Patienten zu identifizieren. Es erfolgt eine ausführliche, individuelle Ernährungs- und Lebensstilberatung, bei der Möglichkeiten, den Vata-Einfluss zu vermindern, besprochen werden. 

Äußerliche Anwendungen 

Vata selbst ist kalt und trocken. Daher lässt er sich am besten durch Wärme und Öl reduzieren. Dies erfolgt durch die Behandlungsprinzipien von Ölung/Fettung (Snehana), und Schwitzen (Svedana). Verstärkt wird der Vata-besänftigende Effekt jeweilis durch Zugabe von Vata-reduzierenden Kräutern. Geeignete Öle, die speziell bei Vata-Störungen im muskuloskelettalen System eingesetzt werden, sind z.B. Mahanarayana-Tailam, Dhanvantaram-Tailam oder auch Karpuradi-Tailam. 

Eine junge Frau liegt auf einer Massageliege und hat die Augen geschloßen. Über ihren Rücken hält ein Masseur seine Hände für eine ambulante Ayurveda Kur.

Die Kombination Wärme, Öl und Kräuter kann auf unterschiedliche Weise genutzt werden, z.B. als 

  • Abhyanga: Die klassische ayurvedische Ölmassage. Hier wird das ausgewählte warme Kräuteröl in einem genau beschriebenen Ablauf mit sieben Positionen ca. 45 Minuten lang sanft mit gleichmäßigen Zügen am ganzen Körper einmassiert. Die langsamen, rhythmischen Bewegungen der Masseure fördern den Vata-reduzierenden Effekt weiter. Spezielle Grifftechniken vertiefen die Wirkung. 
  • Katipicu: Die Ölauflage. Dies ist eine Methode, warmes Öl länger an der Stelle des maximalen Schmerzes zu konzentrieren. Ein Mulltuch wird nach der Ganzkörpermassage über die betroffene Rückenregion gelegt und immer wieder mit warmem Kräuteröl begossen, so dass unter dem Mulltuch ein immer warmer Ölfilm entsteht. 

Neben den Öltechniken sind die Schwitztechniken, Svedana, in der ayurvedischen Therapie von Vatavyadhis zentral. 

Auch hier gibt es eine Vielzahl von Variationen, z.B. 

  • Sarvangasveda: Ganzkörperdampfbad. Bei dieser Technik wird im Anschluß an die klassische ayurvedische Ganzkörpermassage der Patient mit dem Dampf einer Kräuterabkochung, z.B. von Dashamula-Kvatha (10 Wurzeln) gewärmt. Bei Sarvangasveda wird der Patient in eine Art individuelles Dampfbett gelegt, aus dem nur der Kopf, der kühl bleiben sollte, herausguckt. 
  • Nadisveda: Bei Nadisveda kommt der Kräuterdampf durch ein Schlauchsystem und wird vom Therapeuten in gleichmäßigen kreisförmigen Bewegungen über den Körper geleitet

Typisch für alle ayurvedischen äußerlichen Anwendungen ist, dass sie täglich über eine Periode von z.B. 21 Tagen wiederholt werden, um den vollen Effekt zu erzielen. So wird Vata besänftigt, die Gewebe ernährt und die Verdauungsfeuer angeregt, was erneut zur besseren Stabilität der Doshas und der Gewebe beiträgt. Das Schwitzen hilft beim Ausleiten der veränderten Doshas und wird als Entgiftung verstanden. 

Aus schulmedizinischer Sicht wirken diese Methoden durchblutungsfördernd, muskelrelaxierend und damit analgetisch (schmerzlindernd). Sie helfen, den Teufelskreis aus Schmerz und Verspannung zu unterbrechen. 

Innerliche Anwendungen 

Bei den innerlichen Anwendungen werden zwei Therapieprinzipien unterschieden: Samshamana, Dosha-ausgleichende Therapie und Samshodhana, Dosha-reinigende Therapie. 

Samshamana: Dosha-ausgleichende Therapie 

Ihr Ziel ist, quantitativ veränderte Doshas wieder zu beruhigen, die Verdauungsfeuer zu stimulieren und die Gewebe in ihrer Funktion zu stärken. 

Die sanfteste Form der Samshamana-Therapie ist der gezielte Gebrauch von Lebensmitteln und Gewürze, also eine Ernährungstherapie. In dieser wird der Patient geschult und kann so selbständig seine Therapie durchführen. Die ayurvedische Küche dient also dem Dosha-Ausgleich und bedient sich aller Lebensmittel und Gewürze. Sie ist nicht mit der indischen Küche gleichzusetzen! 

Zur intensiveren Samshamana-Therapie werden im Ayurveda weiterhin hunderte von Heilpflanzen genutzt, die eine differenzierte Phytotherapie ermöglichen. Alle Pflanzen sind im Hinblick auf ihre energetische Wirkung, Wirkstärke sowie bevorzugte Wirkorte sowie die Zeichen einer Fehldosierung exakt beschrieben. Viele von ihnen werden seit Jahrzehnten toxikologisch untersucht und ihre Wirksamkeit mit modernen Medikamenten verglichen. Häufig verwandte Kräuter sind z.B. Rasna (Vanda tesselata), Ashvagandha (Withania somnifera), Eranda (Rizinus communis) oder Devadaru (Cedrus deodara). Auch einfache Lebensmittel wie Zwiebel, Kurkuma oder Knoblauch wirken schmerzlindernd. Hervorragende Kräuterkombinationen werden ebenfalls gerne eingesetzt wie Dashamula oder Guggulu-Präparate (aus dem Harz der indischen Myrrhe, Commiphora mukul). 

Die Wirksamkeit von vielen Kräutern ist vergleichbar mit gängigen Nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), wobei über die Kräuterkombination eine sehr viel bessere Verträglichkeit erreicht wird. Der entzündungshemmende Effekt wird als ähnlich der von NSAR, jedoch geringer als der von Kortison eingeschätzt. 

Eine weitere Intensivierung der Samshamana-Therapie ist durch Herbomineralien zu erreichen. Diese sind jedoch in den westlichen Ländern nicht zugelassen. 

Samshodhana: Dosha-ausleitende Therapien 

Sie werden dann angewandt, wenn die Doshas nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändert sind. Die Therapieformen entsprechen in mancher Hinsicht westlichen traditionellen Ausleitungstherapien. 

Aus ayurvedischer Sicht führen sie zunächst zur weiteren Verstärkung der gereizten Doshas. Diese werden dann im Darm gesammelt und ausgeschieden. Danach wird die Bildung frischer, unveränderter Doshas gefördert

Bei Katigraha besonders wichtig sind die Techniken des Abführens (Virecana) und die Darmeinläufe (Basti), die je nach Indikation, Konstitution und Kraft des Patienten erheblich variiert werden können. 

Samshodhana -Therapien führen erfahrungsgemäß zu einer deutlichen Beschwerdelinderung über mehrere Monate. Sie können bei chronischen Fällen alle 3-6 Monate wiederholt werden. In der Zwischenzeit werden Samshamana -Verfahren angewandt. Typischerweise ist die Sensitivität der Patienten auf Medikamente – auch schulmedizinische – nach Samshodhana-Therapien deutlich verbessert. Chronische Schmerzpatienten können ihre Medikation wieder zurückfahren oder zumindest vorübergehend ganz auf sie verzichten. 

Studien legen nahe, dass die Kombination innerlicher und äußerlicher ayurvedischer Verfahren stärker wirkt als ein nur einseitiges Vorgehen. Unter ayurvedischer Therapie ist die Rückbildung auch neurologischer Symptome bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen beschrieben, wobei die Kombination von Dosha-beruhigenden und Dosha-ausleitenden Verfahren die höhere Erfolgsquote zeigte. Unerwünschte Wirkungen wurden bei systemgerechter Anwendung ayurvedischer Therapien nicht beobachtet.