Wie geht das?

Ingwerwasser, Stirnguss und ein warmer Frühstücksbrei – viele assoziieren Ayurveda mit einer indischvegetarischen Diät und Ölmassagen. Doch wer den Ayurveda in seinem Leben integrieren will, der erkennt schnell: Ayurveda ist noch viel, viel mehr.

Was machst du? Ach so, Aloe vera, davon habe ich auch schon mal gehört. Diese Aussage begegnete mir häufig, als ich vor mehr als 30 Jahren mit meinem Studium des Ayurveda (das traditionelle indische Gesundheitssystem) begann. Damals war der Ayurveda noch nahezu unbekannt, und niemand wusste mit Begriffen wie Vata, Pitta, Kapha oder Panchakarma etwas anzufangen.

Sehr viel hat sich seitdem geändert: Heute ist der Ayurveda mitten in der Gesellschaft angekommen. Nahezu jeder Bioladen führt ein reiches Sortiment an ayurvedischen Gewürzmischungen und Frühstücksflocken, Ayurveda-Bücher sind selbst auf dem Wühltisch im Bahnhofsbuchladen zu finden, und auf der Karte von innovativen Cafés sind Ayurveda-Tees längst eine Selbstverständlichkeit. Außerdem reisen jedes Jahr tausende Urlauber für eine Ayurveda-Kur in die Ursprungsländer Indien und Sri Lanka. Dort lassen sie sich mit Ölmassagen verwöhnen oder im Rahmen eines Klinikaufenthalts ayurvedisch behandeln.

Ayurveda als Navigator für ein selbsterfülltes Leben

Was ist das Besondere am Ayurveda, das mich bereits seit meiner Jugend fasziniert und nicht mehr loslässt? Ayurveda ist für mich eine Lebensphilosophie und Gesundheitslehre, die mein ganzes Leben, meine Persönlichkeit und berufliche Entwicklung geprägt hat. Mithilfe der ayurvedischen Typenlehre konnte ich bereits früh erkennen, welcher Konstitutionstyp ich bin und welche Talente und Erfolgspotenziale, aber auch Krankheitsneigungen damit verbunden sind. Wie selbstverständlich bestimmt die ayurvedische Ernährungs- und Lebensweise meinen Alltag und bereichert mich jeden Tag mit vitaler Leistungskraft, stabiler Gesundheit und genussvoller Lebensfreude. Selbst emotionale Konfliktsituationen können mit dem Wissen um die mentalen Persönlichkeitstypen auf konstruktive Weise gelöst werden.

Ayurveda ist ein Sanskritbegriff und bedeutet: das Wissen vom Leben (Ayus = Leben; Veda = Wissen(schaft)). In diesem Sinne umfasst der Ayurveda alle Bereiche des Lebens: Von der Ernährung über die natürliche Körperpflege bis hin zur typgerechten Kindererziehung und alternativen Heilmethoden. Ayurveda selbst definiert sich als ganzheitliches Gesundheitssystem mit starkem Präventionsansatz: 80 % aller Ayurveda-Empfehlungen sind auf die Gesunderhaltung ausgerichtet und 20 % des traditionellen Heilwissens dienen der konkreten Behandlung von Erkrankungen.

Jeder Mensch ist einzigartig

Vata, Pitta oder Kapha – welcher Konstitutionstyp bin ich? Diese Frage bewegt wohl jeden, der mit dem Ayurveda in Berührung kommt. Und tatsächlich, das Wissen um die eigenen Dosha-Ausprägungen ist aus ayurvedischer Sicht sowohl die Voraussetzung für ein gesundes Leben als auch für eine erfolgreiche Therapie.

Laut Ayurveda verfügt jeder Mensch über eine einzigartige Grundkonstitution (Prakriti), welche sich durch die individuelle Kombination der drei Doshas Vata, Pitta und Kapha zeigt. Befinden sich diese Kräfte im Gleichgewicht, so bringt dies Gesundheit und Glück hervor. Krankheit hingegen ist das Resultat einer Dosha-Störung (Vikriti), welche immer durch eine Ansammlung von einem oder mehreren Doshas ausgelöst wird.

Zu erkennen sind Vata, Pitta und Kapha anhand ihrer Eigenschaften, welche sich auf körperlicher und mentaler Ebene manifestieren. Die Bestimmung der Grundkonstitution (Prakriti) bedarf einer äußerst komplexen Diagnose, die darauf abzielt, den genetischen Code mit den unveränderbaren Persönlichkeitsanlagen zu entschlüsseln. Sehr viel einfacher und wichtiger für den ayurvedischen Behandlungsprozess hingegen ist die Ermittlung des aktuellen Dosha-Zustands (Vikriti). Dieser gibt direkte Auskunft über die individuellen Krankheitssymptome und -ursachen sowie die passenden Therapiemethoden.

Interaktive Tests zur Konstitutionsbestimmung findet man heute bereits häufig im Internet. Zu den wichtigsten Erkennungsmerkmalen zählen dabei die grundlegenden Konstitutionseigenschaften wie Körperbau, Hauttyp, Stoffwechsel und Temperament. Hinzu kommt die präzise Betrachtung der akuten Beschwerdebilder mit ihren individuell ausgeprägten Symptomen sowie den krankheitsauslösenden Faktoren durch unpassende Lebens- und Ernährungsweisen oder Stressbelastung.

Du bist, was du verdaust

Die richtige Ernährung ist ein zentrales Thema der ayurvedischen Heilkunde und wird zum großen Teil für Gesundheit und Krankheit verantwortlich gemacht. Mit der täglichen Nahrung beeinflussen wir die drei Doshas ständig und haben somit einen direkten Einfluss auf Krankheits- und Heilungsprozesse. Gemäß dem ayurvedischen Therapieansatz „Gegensätze gleichen sich aus“ sollte die tägliche Ernährung immer eine Dosha-Balance herstellen: Steigtbeispielsweise das Vata bei kaltem, trockenem und windigem Wetter an, so sollte es durch eine warme, ölige und nährende Suppe ausgeglichen werden. Bei heißen Sommertemperaturen hingegen werden kühlende und basische Nahrungsmittel empfohlen.

Die Rolle unseres Verdauungsfeuers

Entscheidend für eine gesunde Ernährung ist die individuelle Qualität des Verdauungsfeuers (Agni), welches unmittelbar für die Nahrungsverwertung, Energiegewinnung und Zellerneuerung verantwortlich ist. Immer dann, wenn sich die Doshas im Ungleichgewicht befinden, vermindert sich auch die Verdauungskraft, was zu unmittelbaren Störungen führen kann:

  • Vata-Störungen führen zu einem unregelmäßigen Agni, welches unter anderem für Blähungen, Verstopfung und Nahrungsmittelunverträglichkeiten verantwortlich ist.
  • Pitta-Störungen führen zu einem zu starken und schnellen Agni, welches sich in Form von Übersäuerung, Durchfall oder Sod- und Magenbrennen äußert.
  • Kapha-Störungen führen zu einem zu schwachen und langsamen Agni, was häufig Müdigkeit, Schweregefühl und Übergewicht hervorbringt.

Die allgemeinen Ayurveda-Ernährungsregeln sind darauf ausgerichtet, Agni zu stärken und die Verwertung der Nahrung zu optimieren. Ergänzend dazu verstärken individuelle Empfehlungen zum Dosha-Ausgleich – wie typgerechte Nahrungsmittelauswahl, Gewürze und Zubereitungsformen – die therapeutische Wirkung.

Drei Ernährungsregeln für eine starke Verdauungskraft

  1. Nicht zu viel essen! Der Magen sollte pro Mahlzeit nur zu drei Vierteln mit Nahrung gefüllt werden. Dies entspricht ungefähr der Menge, die in zwei Handflächen passt.
  2. Regelmäßige Mahlzeiten einnehmen und unkontrollierte Zwischenmahlzeiten meiden. Optimal ist es, zwischen den Mahlzeiten für drei bis sechs Stunden zu pausieren.
  3. Gekochte Speisen mit verdauungsfördernden Gewürzen wie Ingwer, Kreuzkümmel, Koriander und Kurkuma bevorzugen.

Gewürze – Kostbarkeiten der ayurvedischen Küche

Ingwer, Kurkuma, Kreuzkümmel und Koriander – was wäre die Ayurveda-Küche ohne diese Gewürze? Die aromatischen Samen, Wurzeln und Kräuter dienen als Geschmacksträger, Verdauungsstärker und Heilmittel in der täglichen Ernährung. Die gesundheitsfördernde Wirkung der Gewürze wird mittlerweile auch von der modernen Wissenschaft bestätigt.

Im ayurvedischen Kontext wirken die Gewürze als Agni-Entfacher (Deepana) und sollten in keiner Hausapotheke fehlen. So hilft beispielsweise Kurkuma bei Übersäuerung und Haut-reizungen, Nelke bei Kopfschmerzen, Muskat bei Durchfall und Schlafstörungen, und Ingwer ist ein Allrounder für das Verdauungssystem. Auch heimische Küchenkräuter wie Petersilie, Basilikum und Schnittlauch unterstützen das körperliche und psychische Wohlbefinden und können sehr gut in die ayurvedische Küche integriert werden.

Rituale für den Alltag

„Der erste Tag deiner Krankheit ist der, an dem du mehr Energie verbrauchst als du zurückgewinnst.“ Dieses Zitat meines ersten Ayurveda-Lehrers begleitet mich bis heute. Was tun wir uns täglich Gutes zur Energiegewinnung, um die Belastungsfaktoren des Alltags unbeschadet zu meistern?

Ich selbst starte meinen Tag mit heißem Wasser, etwas Pippali mit Honig und einer kleinen dynamischen Trockenmassage, um meinen Kapha-Stoffwechsel auf Trab zu bringen. Pitta-Typen hingen sollten keinesfalls auf die ayurvedische Morgenroutine mit Zunge schaben und Ölziehen verzichten, um ihren morgendlichen Säure-Basen-Haushalt zu balancieren. Und für Vata ist ein entspanntes Programm mit ein paar Yoga- und Atemübungen, Ölmassage und einem warmen Frühstücksbrei der optimale Start in den Tag.

Die ayurvedische Gesundheitslehre gibt eine Fülle von gesundheitsstärkenden Anregungen für den Alltag, aus der sich jeder Einzelne seiner Konstitution und Lebensweise entsprechend das Passende heraussuchen kann. Wichtig ist dabei, den Körper mit seinen natürlichen Bedürfnissen – wie Ausscheidung, Körperdränge, Ruhe- und Aktivitätsphasen – im chronobiologischen Rhythmus zu unterstützen. Am Morgen sollten die natürlichen Reinigungs- und Ausscheidungsprozesse aktiviert werden. Hierzu empfiehlt der Ayurveda eine Morgenroutine (Dinacharya), die mit dem Trinken von heißem Wasser (zur Verdauungsanregung) nach dem Aufstehen beginnt. Anschließend folgt eine gründliche Morgentoilette mit verschiedenen Reinigungsmethoden, dazu können Zunge schaben, Ölziehen, Nasenspülung und Selbstmassage gehören. Je nach Bedarf müssen nicht alle Methoden täglich oder von jedem ausgeführt werden. Die eigene Dosha-Konstitution und eventuelle Ungleichgewichte können bei der Auswahl berücksichtigt werden.

Aus ayurvedischer Sicht sollte mittags die Hauptmahlzeit eingenommen werden. Jetzt brennt das Verdauungsfeuer „Agni“ am stärksten, und wir können auch schwer verwertbare Nahrung, wie z. B. Hülsenfrüchte, Rohkost oder fettreiche Kost, am besten verdauen.

Der Nachmittag und frühe Abend sind Vata-sensible Zeiten, was sich durch schwankende Energieabfälle, Heißhunger und die gesteigerte Anfälligkeit für Stress-Symptome zeigt. Hier helfen nun süße Früchte, Nüsse und warme Getränke zur inneren Stabilisierung und Energiegewinnung.

Gelingt es uns zusätzlich noch, einen Spaziergang an der frischen Luft oder ein ausgleichendes Yoga-Programm in den Tagesablauf zu integrieren, ist der Übergang von der aktiven, energieverbrauchenden Tagesphase in den regenerativen, energiegewinnenden Nachtzyklus perfekt. Der Abend sollte mit einer leichten und warmen Mahlzeit beginnen und von Entspannung und Sinnesrückzug geprägt sein. Das sind die idealen Voraussetzungen, um sich auf einen guten Schlaf und einen aktiven Gewebestoffwechsel in der Nacht vorzubereiten. Im Bedarfsfall fördert eine heiße Milch mit einer Prise Muskat und Mandeln den Schlaf.

Kleine Schritte – grosse Wirkung

Die Fülle der ayurvedischen Gesundheits- und Alltagstipps führt uns leicht in Versuchung, das gesamte Leben umkrempeln zu wollen. Doch das ist nicht unbedingt ratsam! Bereits die alten ayurvedischen Schriften betonen ausdrücklich, dass eine gesunde Lebensweise nur in kleinen Schritten auf nachhaltige Weise umgesetzt werden kann. So sollten wir maximal ein Viertel unserer alten Ernährungs- und Lebensgewohnheiten in neue umwandeln. Und erst wenn diese fest in unserem Alltag integriert sind, sollten weitere neue Regeln hinzukommen.

In diesem Sinne sind die kleinen Schritte der Erfolgsgarant für eine große Wirkung. Beginnen sollte jeder mit dem, was sich im eigenen Tagesablauf leicht umsetzen lässt, gut schmeckt und das Leben auf genussvolle Weise bereichert.

Der Ayurveda ist kein starres Gesundheitssystem, das den Menschen in seiner persönlichen Lebensweise und Freiheit einschränken möchte. Im Gegenteil: Da Gesundheit aus der Balance von Körper, Geist und Seele entsteht, empfiehlt der Ayurveda gerade für die Seele eine undogmatische Lebensweise mit „ungesunden“ Ausnahmen, welche den Glücks- und Genussfaktor im Alltag stärken.

Es gilt letztendlich, die Achtsamkeit für das eigene Körper-Geist-System zu stärken, um einerseits Imbalancen zu vermeiden und zum anderen bereits entstandene Ungleichgewichte durch ausgleichende Maßnahmen wieder harmonisieren zu können. Dabei berücksichtigt der Ayurveda liebevoll die individuelle Konstitution jedes einzelnen und gibt wertvolle Ratschläge, um Lebensfreude und Wohlbefinden zu steigern.


Heft 53 – Ayurvedisch leben

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Ayurvedisch leben.