In meiner asketischen Zeit als junger Mönch in Indien kehrte ich am Abend erschöpft und völlig ausgehungert zum Tempel zurück. Den ganzen Tag über war ich zu Fuß oder mit überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln in Mumbai unterwegs, um dringend notwendige Spenden zu sammeln. Zum Abendmahl bekam ich mit viel Glück ein paar Löffel Reisflocken mit etwas warmer Milch und eine Banane. Das war alles. Dabei hatte ich das Gefühl, diese Mahlzeit hätte mir eben gerade das Leben gerettet. Heute in Europa, wo kein Mangel herrscht, mache ich die umgekehrte Erfahrung. Ein Teil der Wohlgenährten essen nicht mehr, um sich selbst am Leben zu erhalten. Nein, sie wollen mit ihrem Essverhalten die Welt retten.

Ist Milchkonsum nicht mehr modern?

Ich schätze ethisch motiviertes Essverhalten, aber die Perspektive sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden. Sammler und Jäger sammelten und jagten, um zu verschiedenen Epochen und an verschiedenen Orten zu überleben. Sie haben sich an die entsprechenden Lebensbedingungen angepasst. So haben Gesellschaften, die von Milchwirtschaft abhängig waren, Gene entwickelt, um Milch auch verdauen zu können. Die Nahrungsmittel, die zur Verfügung standen, wurden wertgeschätzt, ja sogar verehrt und bei Ritualen eingesetzt. Die Perspektive auf die Geschenke der Natur war damals eine andere und demütigere als es heute der Fall ist. Im Ayurveda aber nehmen Milch und ihre Sekundärprodukte eine wichtige Rolle ein – und das aus gutem Grund. In modernen Gesellschaften wird das Konsumieren von Milch und Milchprodukten teilweise abgelehnt. Einerseits aus ethischen Gründen, andererseits aufgrund von Unverträglichkeiten.

Milchverzehr aus Sicht des Ayurveda

In den seltensten Fällen liegt bei einer Milchunverträglichkeit in Europa ein genetisch bedingter Defekt vor. 95 % der nördlich der Alpen wohnhaften Menschen verfügen über eine körper-eigene Laktase-Enzym-Genese, um ihr ganzes Leben lang Laktose verdauen zu können. Viel häufiger sorgt ein geschwächter Stoffwechsel dafür, dass die Kapha vermehrenden und damit grundsätzlich schwer zu verdauenden Milchprodukte nicht verarbeitet werden können. Außerdem ist es auch für Menschen mit einem starken Stoffwechsel fast unmöglich, Milch aus dem Kühlschrank richtig zu verdauen.

Die ayurvedischen Klassiker empfehlen deshalb, Milch nur abgekocht, warm, mit Gewürzen versehen und in kleinen Mengen zu verzehren. Ja sie gehen sogar soweit, dass sie Milch, die am Morgen gemolken wurde, verbieten. Weil sich die Kühe über Nacht im Stall nicht bewegen, zeigt die Morgenmilch zusätzliche Kapha Eigenschaften, was sie noch „schwerer“ macht. Doch damit nicht genug: Charaka (ein Autor der klassischen ayurvedischen Texte) schrieb, dass Produkte von Tieren, die keine artgerechte Nahrung und Bewegung erhalten, für den menschlichen Verzehr nicht geeignet sind. Das bedeutet einerseits, dass selbst die ayurvedischen Klassiker schon eine artgerechte Tierhaltung voraussetzten, und zum anderen, dass Herkunft und Qualität des überwiegenden Teils der heute konsumierten Milchprodukte nicht den Richtlinien der ayurvedischen Klassiker entsprechen.

Milch – Fakten und Statements

Was sind nun die Fakten dieses von Kontroversen umgebenen Nahrungs- und Wundermittels Milch, das schon die Götter in den Rig Veden (ältester Teil der vier Veden, zählt zu den wichtigsten Schriften des Hinduismus) besungen haben? Vorweggenommen hier die Aussage des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel (Max-Rubner-Institut): Es erklärte 2006, dass die Vorteile des Milchkonsums etwaige Nachteile übertreffen. Es sei bewiesen, dass ein ausreichender Milchkonsum Osteoporose, Bluthochdruck, Herzinfarkt und Übergewicht vorbeuge.¹

Trotzdem birgt der Konsum von Milch beträchtliche Risiken. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sieht in Kuhmilch eines der wichtigsten allergieauslösenden Lebensmittel im Kindesalter (neben Hühnerei, Fisch, Soja, Weizen, Erdnüssen /Nüssen). Bei Vorliegen einer familiären Überempfindlichkeitsreaktion könne es zu Neurodermitis, Heuschnupfen und Asthma bronchiale kommen.² Ayurveda und das BfR erklären gleichermaßen, dass Kleinkinder nur Muttermilch bekommen sollten. Doch wie so oft sind potenziell gefährliche Stoffe die wirksamsten Heil- und Nahrungsmittel. Während meiner ärztlichen Praxis in Indien konnte ich beobachten, wie akute Lebererkrankungen mit Hilfe von speziellen, klinisch durchgeführten Milchdiäten erfolgreich behandelt werden konnten.

Mit einem pH-Wert von 6,7 ist frische Kuhmilch fast neutral. Das erklärt aus ayurvedischer Sicht die Pitta regulierende und kühlende Wirkung. Die Tabelle mit den Gehalten an Kohlen-hydraten, Eiweiß und Fett von Kuh-, Schaf- und Ziegenmilch spiegelt sich in perfekter Art und Weise in den Empfehlungen des Ayurveda. Diese richten sich ausschließlich an Menschen, die Milch und ihre Produkte vertragen. Bei Unverträglichkeiten – ob diese nur subjektiv wahrgenommen werden oder objektiv überprüfbar sind – lautet der ayurvedische Grundsatz immer: Vermeidbare Ursachen müssen gemieden werden!

Die ayurvedische Sicht der wichtigen Milch-Arten ist wie folgt

Kuhmilch besitzt die Eigenschaften süß, ölig, schleimig, leicht kühlend und eignet sich für Vata- und Pitta-Konstitutionen. Kapha-Menschen sollten Milch und Milchprodukte gar nicht oder nur in geringen Mengen zu sich nehmen. Sie wirkt als Rasayana (zellverjüngend), immun- und herzstärkend, fördert den Intellekt, Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Potenz, mildert Gicht sowie starke Überschüsse von Vata und Pitta.

Zusätzlich fördert Kuhmilch einerseits Ojas (die feinste Essenz unserer Nahrung, essenziell für den Aufbau gesunder Körpergewebe) und andererseits Sattva (eine der drei geistigen Eigenschaften – Reinheit, Licht, Harmonie, Gleichgewicht). Auch gerade wegen dieser feinen, transzendenten Qualitäten, die die materielle Ebene überschreiten, hat Milch im Ayurveda einen so hohen Stellenwert. Milch wird manchmal auch als Anupanam (Transportmedium) eingesetzt, dass dafür sorgt, dass eingenommene Kräuter oder Präparate vom Körper leichter aufgenommen werden und an den richtigen Ort gelangen.

Ziegenmilch ist wie aus der Tabelle ersichtlich die „leichteste“ was Kohlenhydrate und Fette angeht und wird deshalb am besten vertragen. Ihre Eigenschaften sind adstringierend, süß, kühlend und leicht. Deshalb eignet sie sich für alle Konstitutionen. Insbesondere in der Heilkunde wird sie bei Fieber, Durchfall, Erkrankungen der Atemwege, Aszites ( Bauchwassersucht ) und anderen Wasseransammlungen eingesetzt.

Schafsmilch ist sehr nahrhaft. Sie besitzt die höchsten Fett-, Eiweiß- und Kohlenhydrat-Werte. Ihre Eigenschaften werden im Ayurveda als schwer, süß und geschmeidig angegeben. Sie eignet sich für Vata-Konstitutionen und bei starken Vata-Beschwerden wie einer „trockenen“ Bronchitis oder Gewichtsverlust.

Welche Ersatzprodukte sind bei Milchunverträglichkeiten Doshagerecht und geeignet?

Bei Unverträglichkeit gegenüber Milch oder ihren Produkten gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Ersatzprodukten. Diese sollten aber zwingend auf die eigene Konstitution und Bedürfnisse angepasst werden. Für Vata-Konstitutionen oder bei Vata-Beschwerden eignen sich am ehesten Hafer-, Reis- oder Mandel-Ersatzprodukte. Für Pitta-Typen sind Mandel- oder Reis-Ersatzprodukte empfehlenswert. Bei Kapha-Menschen sind streng genommen weder Milchprodukte noch ihre Alternativen empfehlenswert, da sie alle Kapha vermehrend wirken. In kleinen Mengen können Reis- oder Soja-Ersatzprodukte verwendet werden.

Schlussbemerkung: Die natürliche psychoimmunisierende und stimmungshebende Wirkung von frischer Milch, die sich aus ihrem innewohnenden Sattva-Anteil ergibt, geht bei der industriellen Gewinnung und Verarbeitung zum großen Teil verloren. Wer sich keine eigene Ziege oder Kuh im Garten halten kann, tut gut daran, ab und zu auf einem Demeter- oder BioBauernhof frisch gewonnene Milch vom Abend, wenn die Tiere von der Weide kommen, zu besorgen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert sind die Städter im Sommer zur Milchkur auf die Alm gezogen und haben sich so für die dunkle Winterzeit gerüstet. Das hat, so kann man annehmen, viele Menschenleben gerettet.

¹ NDR, Plusminus: Mythos Milch (Memento vom 27. April 2006 im Internet-Archiv), 25. April 2006
² Bundesinstitut für Risikobewertung: Allergien in Deutschland, Presseinformation vom 15. August 2006


Heft 51 – Gesunde Körpermitte

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Gesunde Körpermitte.