Der Ayurveda ist eine Heilkunde, die Arzt, Therapeuten und Patienten eine detaillierte Landkarte liefert, wie er aus der Krankheit zurück in die Ganzheit, in das eigene Heil kommt. Diese Landkarte hat vier Seiten, der Ayurveda spricht von vier verschiedenen Schichten der menschlichen Existenz. Jede Schicht hat ihre eigene Struktur und Dynamik.
Erste Schicht: Sthula sharira oder grober Körper
Die erste Schicht entspricht in etwa der Psychosomatik aus westlicher und naturheilkundlicher Sicht. Die Struktur des groben Körpers leitet sich von den fünf Elementen ab, die als die grundlegenden Bausteine des Kosmos gelten. Der dynamische Aspekt der fünf Elemente bildet die Grundlage der drei Doshas. Der grobe Körper spiegelt den Teil des Ayurveda wieder, der den größten Bekanntheitsgrad gefunden hat.
Das Leben ist ein Wechselspiel der drei Doshas, deren Gleichgewicht Gesundheit bedeutet und deren Ungleichgewicht zur Krankheit führt. Der Ayurveda ist jedoch eine Heilkunde, die mehr vermag. Er hat sich im Wechselspiel mit den sechs Systemen der indischen Philosophie, den verschiedenen Spielarten des Yoga und Tantra, den Upanishaden und den Veden entwickelt. Deshalb führt die Landkarte in weitaus tiefere Schichten menschlicher Existenz.
Zweite Schicht: Sukshma sharira oder feiner Körper
Der feine Körper ist die Ebene der Energie, des indischen Prana, des chinesischen Chi oder des germanischen Od. Er entspricht in etwa dem astralen Körper im westlichen Sprachgebrauch. Die Bausteine in dieser Schicht sind wiederum die fünf Elemente, diesmal in ihrer energetischen Ausprägung. Sie entwickeln eine Dynamik, die der verfeinerten Aspekten der Doshas entspricht, die unter den Begriffen Prana, Tejas und Ojas bekannt sind. Prana ist verfeinertes Vata, ist die primäre Lebensenergie, die subtile Kraft der Luft, die die Grundlage von allen körperlichen und geistigen Funktionen ist.
Prana ist die Voraussetzung für die Entwicklung höherer Bewusstseinszustände. Tejas ist konzentriertes Pitta, die innere Strahlung, die subtile Energie des Feuers, über die wir Eindrücke und Gedanken verdauen.
Tejas ist für die Entfaltung einer verfeinerten Wahrnehmung und Unterscheidungskraft zu-ständig, ohne die eine geistige Entwicklung nicht stattfinden kann. Ojas ist sublimiertes Kapha, die subtile Kraft des Wassers, unsere vitale Energie-Reserve, die Essenz von verdauter Nahrung, Eindrücken und Gedanken. Innerlich fördert es Stille durch Kraft und unterstützt dadurch das geistige Wachstum. Die Energie zirkuliert in eigenen Gefäßen, die im Ayurveda als Nadis bezeichnet werden. Es werden 14 große Nadis auf der Hautoberfläche beschrieben, die den gleichen Verlauf wie die Meridiane der Akupunktur haben. Zusätzlich versorgen 14 große Nadis innerhalb des Körpers die Organe mit Energie. „Nadi“ leitet sich von „Nada“ oder Klang ab.
Energie kann in Form verschiedener Klangmuster verstanden und angesprochen werden. Mit Klängen in Form von Musik (Gandharva), therapeutischen Klängen (Klangschale, Gong, etc), vedischen Rezitationen oder Mantren kann der Energiekörper deshalb gezielt moduliert werden. Die Energie ist nicht diffus verteilt sondern formt Zentren mit verschiedenen Aufgaben. Insgesamt gibt es an Rumpf und Kopf sieben große Energiewirbel oder Chakren. Sie können als Energiewandler begriffen werden, die die Informationen der Seele und des höheren Selbst umsetzen in die Bedürfnisse und Regulation der Psychosomatik. Der grobe und subtile Körper sind über die Marmapunkte verbunden. Marma bedeutet Tor oder Sammlung. Es sind definierte Punkte auf der Haut, über die die verschiedenen Komponenten des energetischen Körpers aktiviert werden können.
Dritte Schicht: Karana sharira oder kausaler Körper
Der kausale Körper entspricht dem, was wir als Seele oder Atma bezeichnen. Es ist die essenzielle Lebenskraft, die die Information für das individuelle Leben beinhaltet. Die Struktur des kausalen Körpers sind die Tanmatras, die als kosmisch reine Modelle der fünf Elemente verstanden werden können.
Es heißt, dass derjenige, der die Natur der Tanmatras begreift, jedes Objekt im Universum versteht. Die Dreiheit im kausalen Körper wird durch die alten vedischen Gottheiten Agni, Soma und Indra symbolisiert. Agni ist konzentriertes Feuer, die Kraft der Transformation, der Geist in der Materie, lokalisiert an der Basis der Wirbelsäule.
In seiner Entfaltung wird es zur Kundalini und belebt alle Chakren. Soma ist nährende, verbindende Kraft des Universums, die Wonne reinen Bewusstseins, der Nektar der Unsterblichkeit, die Hingabe an die Unbegrenztheit, lokalisiert im zentralen Nervensystem.Agni repräsentiert das spirituelle Suchen, die aufsteigende Aspiration und Soma die herabsteigende göttliche Gnade, die sich beide ergänzen. In ihrer Vereinigung schaffen Agni und Soma eine dritte Komponente, Indra, die im Herzen lokalisiert ist und für den ganzheitlichen Aspekt der primordialen Energie steht. In späteren Darstellungen erscheint Agni als Shakti, die aufsteigende Energie die sich mit Soma, personifiziert als Shiva, vereinigt. Shiva-Shakti, das kosmische Bewusstsein und die ihr inhärente Energie sind das Wesen des kausalen Körpers. In der vedischen Tradition wird der kausale Körper hauptsächlich über die verschiedenen Wege des Yoga und Tantra entwickelt.
Der Urgrund: Das All-Eine oder Brahman
Die drei Schichten umhüllen die letzte Wahrheit des Lebens, das Alleine oder Brahman. Es kann als höchste Existenz in der Form Gottes begriffen werden oder als attributloses, transzendentes Sein. In jedem Fall ist es die zentrale Ordnung alles Seienden, das sich in den verschiedenen Ebenen des Lebens ausdrückt.
Die transzendente Qualität des Brahman ist Sat Chit Ananda. Sat ist reine, unausgedrückte Existenz, das reine Sein als Basis aller Ausdrucksformen der Schöpfung. Chit ist die Qualität von reinem Bewusstsein. Das Sein kann sich seiner selbst bewusst werden und schafft dadurch in der Einheit eine virtuelle Struktur. Ananda bedeutet Glückseligkeit, die sich dem Suchenden entfaltet, wenn er das Brahman als letzte Wirklichkeit erfährt. Im Laufe der verschiedenen Transformationsschritte der Schöpfung entwickelt sich die transzendente Qualität von Sat Chit Ananda zu Indra, Agni und Soma, zu Prana, Tejas und Ojas und schließlich zu Vata, Pitta und Kapha.
Eine kurze Überlegung zeigt, dass das Gleichgewicht dieser Intelligenzmuster durch den Kontakt mit dem Quell der Schöpfung eine wichtige Stabilisierung von Innen erfährt. Das ist „heil“ oder „ganz“ werden im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Verbindungsebene zwischen dem kausalen Körper und Brahman kann als göttliche Wahrheit begriffen werden. In den Veden wird sie als Ritamebene bezeichnet.Es ist die Qualität des Bewusstseins, die spontan im Einklang mit der Intelligenz der Natur steht.
Ein Wachsen in diese Bewusstseinsqualität fördert automatisch einen Lebensstil, der gesundheitsfördernd ist.
Ayurveda, die Wissenschaft vom Leben
Der Ayurveda ist eine ganzheitliche moderne Heilkunde, die mit allen anderen Wissenszweigen, die das Leben fördern, kompatibel ist. Auf der Ebene des groben Körpers sind es vor allem lebensfördernde Aspekte der westlichen Medizin, natürliche Heilweisen, psychologische Verfahren, Körperarbeit oder physikalische Therapien.
Insbesondere zur chinesischen Medizin ergeben sich viele interessante Verbindungen. Der subtile Körper korrespondiert mit der energetischen Medizin und verschiedenen Formen der Energiearbeit und energetischen Heilung. Verfeinerte Körperarbeit und physikalische Therapien, die energetische Arbeit mit Druckpunkten, Klangtherapien und eine Reihe schamanischer Verfahren fallen ebenfalls in diese Rubrik. Die Arbeit am kausalen Körper verbunden mit der Erkenntnis, dass Atma, die individuelle Seele, gleich Brahman der kosmischen Seele, ist, gehört traditionell in das Ressort transzendierender Meditationsverfahren und intellektueller Erkenntnisprozesse. Verfeinerte Energiearbeit unterschiedlicher Herkunft und gekonnte Geistheilung sind ebenfalls in der Lage, Korrekturen am Seelenplan vorzunehmen. Eine Landkarte dient der Orientierung und schützt vor dem Verlaufen. In diesem Sinne ist der Ayurveda einfach, klar strukturiert und umfassend.
Heft 05 – Das Frühjahr
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