Beide Wissenszweige – Yoga und Ayurveda – haben zum Ziel, die Balance im Leben der Menschen zu stärken und damit die Gesundheit und das Glücksempfinden zu fördern. Allerdings gehen sie dabei unterschiedliche Wege: Der Yoga befasst sich primär mit geistigen Übungen wie Kontemplation und Meditation, Atemtechniken, den Körperstellungen (Asana) sowie der dazugehörigen Lebensweise. Der Ayurveda hat seinen Schwerpunkt auf der körperlichen Ebene: Ernährung, Lebensführung und heilende Maßnahmen werden sinnvoll kombiniert, um die Gesundheit zu bewahren bzw. sie wiederherzustellen.

Dieser grundlegende Unterschied zeigt sich auch in der Ernährung: Der Ayurveda betrachtet alle Lebensmittel in gleicher Weise. Jede Substanz hat ihre spezifischen Eigenschaften, ihre Wirkung auf die Doshas oder die Gewebe und kann daher in heilsamer oder störender Weise eingesetzt werden. Der Yoga hingegen bewertet in eindeutiger Form: Das was die geistige Grundeigenschaft der Ausgewogenheit (sattva) stärkt, sollte verzehrt werden, das was die Leidenschaft (rajas) und die Dumpfheit (tamas) stärkt, sollte hingegen vermieden werden.

Gemeinsamkeiten

Von der Grundtendenz her gibt es natürlich allgemeine Prinzipien, die beiden Systemen gemeinsam sind und die teilweise auch die moderne Ernährungswissenschaft befürwortet. Dazu gehören folgende Aspekte:

  • frische Speisen
  • regional, saisonal
  • ökologisch, bio
  • primär vegetarisch
  • maßvoll
  • ruhiges und bewusstes Essen
  • Dankbarkeit
  • ehrlich erworbene Speisen

Unterschiede

Der Yoga betrachtet zum Beispiel scharfe Nahrungsmittel kritisch, da sie die Eigenschaft der Leidenschaftlichkeit (rajas) stärken, im Ayurveda dienen sie aber dazu, das langsame Kapha zu aktivieren und das Verdauungsfeuer (agni) zu stärken. Oder Knoblauch, dem im Yoga eine dumpf machende Wirkung zugeschrieben wird, gilt im Ayurveda als wertvolles Mittel zur Stärkung der Lebensenergie (rasayana)

Auch wenn der Ayurveda auch die geistige Typologie kennt und Ausgewogenheit, Leidenschaft und Dumpfheit unterscheidet, werden diese Kategorien in erster Linie benutzt, um zu beschreiben, wie ein Mensch mit seiner Krankheit umgeht: Der von Sattva bestimmte bleibt innerlich ruhig und stabil, er ist fest davon überzeugt, dass die Heilung eintreten wird, der von Rajas bestimmte ist ein leidenschaftlicher Kämpfer, das ist zwar eigentlich gut, führt aber auch zu Erschöpfung und Inbalance, wenn die innere Betroffenheit zu stark wird. Der von Tamas bestimmte nimmt den Kampf gar nicht erst auf, er verharrt starr und depressiv in seinen alten Mustern und glaubt nicht an die Heilung.

Bei der Ernährung spielt die Einteilung in verschiedene geistige Typen aber kaum eine Rolle. Die klassischen Texte beschreiben primär die körperlichen Wirkungen und das Gleichgewicht der Doshas.

So können auch Stimulantien therapeutisch genutzt werden, oder es sind auch alkoholhaltige Zubereitungen wie Arishtas und Asavas im Ayurveda überliefert. Alkohol wirkt erwärmend und kann in Maßen sinnvoll eingesetzt werden. In dieser wissenschaftlichen Ausgewogenheit beschreibt der Ayurveda die Eigenschaften und Wirkungen aller essbaren Substanzen. Auf diese Weise kann der Therapeut auf die Vorlieben und Abneigungen der Patienten Rücksicht nehmen und die Balance des Körpers fördern. Im Yoga hingegen werden andere Ziele verfolgt und deshalb werden in der Regel Stimulantien, Alkohol, Fleisch, Fisch und Ei abgelehnt.

Viele Yoga-Praktizierende befürworten einen hohen Rohkostanteil in der Ernährung, wohingegen der Ayurveda ein Freund des Kochens ist, welches die Zutaten leicht, warm und bekömmlich macht. Ebenso wird im Yoga gern das Fasten praktiziert, um den Geist zu klären und sich von physischen Bedürfnissen zu lösen. Der Ayurveda aber sieht das kritisch; denn Fasten erhöht das Vata, sorgt also für Unruhe und evtl. sogar für Stress und Anspannung auf der körperlichen Ebene.

Die Wirkungen auf den Geist und den Körper sollten also differenziert betrachtet werden, sie stimmen nicht immer überein und es kommt darauf an, welcher Aspekt zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine Person wichtiger ist.


Heft 29 – Ernährung aus Sicht des Yoga

Das Journal über die Ernährung aus Sicht des Yogas – welche Lebensmittel für geistige Klarheit sorgen, wo die Unterschiede zur ayurvedischen Ernährungsphilosophie liegen und ihre Gründe.

Martin Mittwede
Author: Martin Mittwede

Martin Mittwede ist Religionswissenschaftler und Indologe. Lehrt Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Frankfurt/Main, praktische Philosophie an der Universität Köln. Ein profunder Kenner der indischen Philosophie und der vedischen Tradition. Medizingeschichtliche Forschung im Ayurveda, langjährige Erfahrungen in der medizinischen Fortbildung. Führt Coachings für Menschen in Krisen- und Wandlungsphasen durch.