Schmerzen & Schmerztherapie aus moderner und ayurvedischer Sicht

Schmerzfreiheit als Dauerzustand gibt es nicht. Schmerz begleitet unser Leben und ist auch eine der häufigsten Ursachen für Arztbesuche. Schmerz ist eine komplexe und subjektive Sinneswahrnehmung. Im akuten Fall ist Schmerz ein Warnsignal, das uns vor größeren Schäden bewahren soll, wenn wir z. B. unsere Hand rasch von einer noch heißen Herdplatte ziehen. Bei chronischen Schmerzen ist der Charakter des Warnsignals verloren gegangen. Das chronische Schmerzsyndrom wird in der westlichen Medizin heute als eigenständiges Krankheitsbild gesehen.

Schmerzdefinition

Die westliche und die ayurvedische Sichtweise schließen sich, wie Sie sehen werden, nicht aus – insbesondere, was die Ursachen und die Therapie von chronischem Schmerz betrifft – sondern ergänzen sich.

Aus westlicher Sicht

Die Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes definiert Schmerz folgendermaßen: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache.“

Aus ayurvedischer Sicht

Bei allen Schmerzsyndromen steht die Vata-Störung, d. h. die übermäßige Vermehrung von Vata-Dosha, im Vordergrund. Die körperliche und auch die psychische Stabilität sind verloren gegangen. Muskel- und Knochengewebe, sowie Knorpel, Sehnen und Bänder und eventuell auch das Nervengewebe sind geschwächt oder beeinträchtigt. Bei chronischen Schmerzen ist Ojas (Essenz eines perfekten Stoffwechselvorgangs; verleiht Strahlkraft, Immunität und Gesundheit) vermindert. Häufig ist zumindest lokal Ama (Stoffwechselrückstände) vermehrt. Bei entzündlichen Veränderungen kommt eine Pitta-Störung hinzu.

Akuter Schmerz

Akuter Schmerz ist nützlich. Bei der Schmerztherapiegeht es meist um die Behandlung chronischer Schmerzen. Natürlich müssen auch akute Schmerzen, wie z. B. nach einem Knochenbruch, behandelt werden, weil sie ansonsten unerträglich sind. So wird nach Knochen-, Sehnen- und Bandverletzungen die verletzte Extremität ruhiggestellt (mit Verbänden oder Schienen), und es wird selbstverständlich ein Schmerzmittel gegeben. Auch während oder nach Operationen erhalten Sie ein Schmerzmittel vom Arzt.

Chronischer Schmerz (Chronisches Schmerzsyndrom)

Diese Form von Schmerz ist nicht nützlich und hat zusätzlich die Eigenschaft, sich selbst zu verstärken. Wenn Schmerzreize ständig auf das Schmerzsystem (Schmerzrezeptoren, Nervensystem, Rückenmark und bestimmte Regionen im Gehirn) einwirken, weil die Ursache nicht beseitigt wird, wie z. B. bei chronischen Entzündungen, löst dies im Schmerzsystem komplizierte Veränderungen aus. Das Nervensystem wird mindestens auf einer oder auch auf allen Ebenen empfindlicher und reagiert selbst bei leichten Reizen. Am Ende entsteht ein Schmerzgedächtnis. Die körpereigenen Mechanismen zur Schmerzhemmung sind nicht mehr in der Lage, den Daueralarm im Nervensystem wirkungsvoll zu dämpfen.

Häufige chronische Schmerzsyndrome

Schon der Blick auf eine (inkomplette) Liste chronischer Schmerzsyndrome lässt die Ursachen erahnen:

  • Knie- und Hüftgelenksschmerzen
  • Schulter-Arm-Syndrom
  • Rückenschmerzen
  • Migräne
  • Neuralgien
  • Tumorschmerzen
  • Schmerzen bei chronischen Entzündungen (Rheuma, Bauchschmerzen)
  • psychische und soziale Schmerzen (z. B. Trennungsschmerz, Schmerzen bei psychischen Erkrankungen)

Die wichtige Frage nach der Ursache chronischer Schmerzen

Vor einer sinnvollen Therapie muss unbedingt die Ursache geklärt und, wenn möglich, beseitigt werden. Sinnloses „herumdoktern“ an Symptomen kann auf Dauer keinen Erfolg bringen.

Die häufigsten Ursachen aus moderner Sicht sind:

  • hohe Schmerzintensität
  • unbewältigter Stress
  • langdauernde körperliche Fehl- oder Überbelastung
  • psychisch bedingte Verspannungen – man hat sich zu viel psychische Last und unbewältigten Stress auf die Schultern geladen
  • nicht ausgeheilte Verletzungen
  • Abnutzung der Gelenke
  • Entzündungen
  • hohes Lebensalter

Typische Ursachen aus ayurvedischer Sicht sind:

  • deutlich erhöhtes Vata
  • erhöhtes Pitta (kann entzündliche Prozesse begünstigen)
  • Stress und Überlastung (führt zu einer Vata-Störung)
  • falsche Ernährung, Mangel an Spurenelementen und/oder Vitaminen (führt zu Vata-Störungen mit Instabilität und/oder Kapha-Störungen mit Überlastung und Abnutzung z. B. der Gelenke sowie zu Ansammlungen von Ama)
  • Mangel an Sport und Bewegung (führt zu einer Vata- und/oder Kapha-Störung)
  • unpassende Bewegung, auch ungünstige Yoga-Asanas (führen zu Vata- und/oder Pitta-Störungen)
  • fehlende Regeneration, Ruhe und Entspannung (führt zu Vata-Störungen)
  • hohes Lebensalter (Vata-Zeit)

Wichtig

Bei schweren und/oder chronischen Schmerzen, nicht ausgeheilten Verletzungen und akuten Entzündungen sollten Sie unbedingt vor jeder Eigenbehandlung einen Arzt aufsuchen. Beachten Sie: Grundlagen jeder Schmerztherapie sind neben den passenden Schmerzmitteln die richtige Ernährung, die richtige Bewegung, die richtige Atmung und die richtige Entspannung. Setzen Sie sich realistische Ziele. Mit Gewalt werden Sie nichts erreichen.

Die moderne Therapie

Der moderne Ansatz der multimodalen Schmerztherapie geht von einer kombinierten Schmerzbehandlung aus, die eine interdisziplinäre Behandlung des Patienten nach einem ärztlichen Behandlungsplan umfasst.

Die Säulen der modernen Therapie sind:

  • Schmerztherapie mit Medikamenten, Injektionen, Akupunktur usw.
  • Physiotherapie
  • Muskel- und Beweglichkeitstraining
  • Entspannungstherapie
  • Achtsamkeitstraining
  • operative Eingriffe, wenn notwendig

Ein wesentlicher Baustein, die richtige und gesunde Ernährung, die für einen Wiederaufbau geschädigter Gewebe sowie für die Funktion und Stabilität aller Gewebe unbedingt notwendig ist, wird bis heute in der modernen Medizin vernachlässigt. Eine Ausnahme sind die Ernährungs-Docs, die zum Thema chronische Erkrankungen, die häufig mit Schmerz verbunden sind, mehrere Bücher veröffentlicht haben. Bei genauer Betrachtung sind diese Ernährungsrichtlinien mit ayurvedischen Regeln, z. B. bei der Therapie von Vata-Störungen, kompatibel.

Die ganzheitliche ayurvedische Therapie

Der Ayurveda setzt in der Therapie chronischer Schmerzen auf die Eigenverantwortung jedes Menschen für seine Gesundheit. Gesundheit ist nicht delegierbar, auch nicht an einen Arzt. Jeder Arzt und jedes Medikament können nur ausgleichen, was die Natur nicht bietet. Dies wird nicht nur im Ayurveda so gesehen, wie das folgende Zitat des XIV. Dalai Lama zeigt:

Jeder ist der Meister seines Schicksals; es ist an uns, die Ursachen des Glücks zu schaffen. Das liegt in unserer eigenen Verantwortung und nicht in der irgendeines anderen. “ Dalai Lama

Alle therapeutischen Maßnahmen sollen Vata und bei Bedarf (z. B. Entzündungen) zusätzlich Pitta besänftigen, Strukturen und Gewebe (insbesondere auch das Nervengewebe) stabilisieren und wieder aufbauen sowie Lebensenergie (Ojas) vermehren und erhalten. Außerdem muss Ama, wenn notwendig, beseitigt werden.

Richtige Ernährung

Grundlage ist eine weitgehend sattvische und Vata angepasste Ernährung, d. h. die Nahrung soll frisch zubereitet, nahrhaft und aufbauend sein. Hauptbestandteile sind Kohlenhydrate (Geschmacksrichtung süß, die Vata und Pitta beruhigt), gekochtes Gemüse und frisches Obst. Vitamine und Spurenelemente müssen bei Bedarf ergänzt werden. Gemieden werden sollten scharfe, bittere, sehr saure, sehr salzige und unnötig fette Speisen. Besonders die geliebte Wurst, der Schweinebraten und größere Mengen Alkohol können eine Regeneration oder Heilung verzögern oder unmöglich machen.

Yoga-Asanas

Yogaübungen sollen Kraft, Stabilität, Beweglichkeit und Ruhe bringen. Zusätzlich eignet sich Yoga, um Achtsamkeit zu üben und Spannungen abzubauen. Asanas werden anfangs ausschließlich nach den Richtlinien für Vata ausgeführt. Es soll gleichmäßig, mit moderatem aber anhaltendem Einsatz geübt werden. Körper und Geist bleiben trotz Anstrengung ruhig und entspannt. Dabei muss auf die spezifischen Einschränkungen und Probleme besondere Rücksicht genommen werden. An erster Stelle steht regelmäßiges, vorsichtiges und sattvisches Üben. Sattvisch üben bedeutet ausgleichend, im richtigen Maß, voll positiver Energie und fair zu sich selbst. Die schmerzenden Regionen (z. B. Rücken, Gelenke) sollen in diesem Fall möglichst belastungsfrei bewegt werden. Es müssen insbesondere auch alle Funktionen und die Stabilität des Rumpfes und der Wirbelsäule gleichmäßig geübt werden. Auch eine ausreichende Entspannung ist wichtig. Um eine Besserung zu erreichen, müssen die Übungen regelmäßig (mindestens dreimal pro Woche) durchgeführt werden.

Beispiele für Übungen, die auch bei Schmerzsyndromen möglich sind, finden Sie in guten Yogabüchern. Weitere Yogaübungen müssen durch einen kompetenten und medizinisch versierten Yogalehrer individuell ausgewählt werden, eventuell auch in Zusammenarbeit mit einem Arzt und/oder Ayurveda-Spezialisten.

Auch mit Atemübungen (Pranayama) können Sie Energien lenken, ausgleichen, entspannen oder auch Ihr „Mütchen“ kühlen und Achtsamkeit üben. Geeignet sind beispielsweise die tiefe Bauchatmung, Ujjayi-Atmung und Shitali (Atemübung, bei der mit einem zischenden Laut über die längs gerollte Zunge eingeatmet wird).

Ayurvedische Massagen

Ayurveda-Massagen und sonstige Therapien sollen körperliche und geistige Schlacken (Ama) entfernen, regenerieren, Körper und Geist entspannen und bei Bedarf Entzündungen hemmen. Besonders wirksam sind Massagen mit Mahanarayana Thailam. Dieses Öl ist eines der besten Vata reduzierenden Ayurveda-Öle. Entzündungshemmend und regenerierend wirken auch lokale Massagen mit Murivenna Keram und Pinda Thailam. Zur Verbesserung des Muskelstoffwechsels und zur Unterstützung der Regeneration ist auch Balashwagandha Thailam gut geeignet. Ideal sind Massagen durch einen erfahrenen Ayurveda-Therapeuten, können aber auch selbst durchgeführt werden. Sehr nützlich zur psychischen Regeneration ist auch Shirodhara, der Stirnölguss.

Nahrungsergänzungen

Ayurvedische Kräuter können die Therapie positiv unterstützen. Besonders geeignet sind Shallaki (Boswellia serrata) und auch Guduchi (Tinospora cordifolia). Shallaki wirkt entzündungshemmend und schmerzlindernd. Boswellia serrata ist auch in Deutschland in wissenschaftlichen Studien gut untersucht. Der wichtigste Inhaltsstoff ist die Boswelliasäure. Die Wirkung setzt nach vier bis sechs Wochen ein. Guduchi wirkt blutreinigend, verjüngend und abwehrsteigernd. Bei psychischer Belastung ist Brahmi (Bacopa monniera) zu empfehlen. Brahmi reguliert und verbessert die Gehirnfunktion, wirkt stresslösend und fördert die Konzentration.

Beispiele – häufige Erkrankungen mit chronischen Schmerzen

Rückenschmerzen

Die mit Abstand häufigsten Ursachen sind eine allgemeine Haltungsschwäche aufgrund einer unzureichenden Muskulatur des Rumpfes und unbewältigter Stress.

Therapie aus moderner und ayurvedischer Sicht

Die körperliche und psychische Stabilität muss wiederhergestellt werden. Außerdem muss die Qualität des Muskel- und Knochengewebes verbessert werden. Eine gute Ernährung ist als Grundlage selbstverständlich. An erster Stelle steht regelmäßiges Training, v. a. der Bauchmuskulatur. Insbesondere Yoga ist hier sehr effektiv. Um einen dauerhaften Erfolg zu spüren, müssen aber auch alle anderen körperlichen/sportlichen Fähigkeiten regelmäßig (mindestens dreimal pro Woche) geübt werden. Die Therapie, d. h. das körperliche Training, kann bei starken Rückenproblemen begleitet werden von sehr wirksamen Ayurveda-Massagen mit Mahanarayana-Öl. Anfangs können auch moderne Medikamente und/oder ayurvedische Kräuter sinnvoll sein.

Schulter-Arm-Syndrom

Durch unsere Arbeits- und Lebensgewohnheiten werden Nacken, Wirbelsäule, Schulter und Arme stark belastet. Die Muskulatur, die Bänder und die Gelenke
sind für diese Belastungen häufig zu schwach und zu wenig trainiert. In vielen Fällen wird auch die wichtige Regeneration durch ausgleichende Bewegung (Yoga, Sport), richtige Ernährung und ausreichende Entspannung vergessen. Anfänglich werden die Beschwerden nicht selten auf die leichte Schulter genommen oder einfach ignoriert. Die möglichen Ursachen werden nicht beseitigt. Die Folge davon ist am Ende das sogenannte Schulter-Arm-Syndrom mit starken Schmerzen im Nacken-, Schulter- und Armbereich. Die richtige Therapie ergibt sich aus den Ursachen (siehe auch Rückenschmerzen).

Kopfschmerzen, Migräne

Sehr viele Patienten klagen über Kopfschmerzen. Beizunehmenden starken Kopfschmerzen oder Kopfschmerzen mit Begleitreaktionen (Erbrechen, Fieber,
Bewusstseinstrübung)
muss allerdings unbedingt nach organischen Ursachen gefahndet werden. Sind organische Ursachen ausgeschlossen, kann mit einer adäquaten Therapie begonnen werden.

Therapie aus moderner und ayurvedischer Sicht

Bei starken Kopfschmerzen darf und soll rechtzeitig ein einfaches Schmerzmittel gegeben werden. Denken Sie daran: Das Gehirn merkt sich Schmerzen, wir haben
ein Schmerzgedächtnis. Grundlage der ayurvedischen Therapie ist einerseits eine Ernährung nach den Richtlinien für Vata bzw. Pitta. Konservierte und schlecht verdauliche, fette Nahrung, wie z. B. Wurst, soll gemieden werden. Die zweite Säule der Therapie ist körperliche/sportliche Aktivität mindestens dreimal pro Woche. Rauchen und größere Mengen Alkohol sind selbstverständlich nicht erlaubt.

Beispiele zusätzlicher wirkungsvoller Maßnahmen:

  • Ayurveda-Massagen mit Mahanarayana-Öl
  • Shirodhara (Stirnölguss)
  • Hydrotherapie nach Kneipp
  • eventuell Kräuter oder Medikamente, je nach Ursache

Abschließende Bemerkungen

Eine ayurvedische Therapie kann die moderne Therapie sehr gut ergänzen. Bei akuten Beschwerden und Verletzungen ist die moderne Therapie zwar schneller und überlegen, bei lang andauernden und chronischen Schmerzen ist der Nutzen einer zusätzlichen ayurvedischen Behandlung jedoch sehr groß und auf Dauer Erfolg versprechender. Aus ayurvedischer Sicht ist in vielen Fällen bei chronischen Schmerzen, so z. B. bei Rheuma (Amavata), eine Panchakarma-Kur zur Entschlackung und Regeneration notwendig und sinnvoll. Die Therapie chronischer Schmerzen erfordert eine intensive Mitarbeit des Patienten. Ohne richtige Ernährung, richtige Bewegung (Yoga, Sport) und richtige Entspannung geht es nicht!

Wenn Du glaubst, etwas ist unmöglich, dann ist es unmöglich. “ Bruce Lee


Heft 63 – Die ayurvedische Schmerztherapie

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Endlich schmerzfrei – Schmerzen & Schmerztherapie aus moderner und ayurvedischer Sicht.