Zwei Wege, die sich gegenseitig ergänzen

In unserer heutigen stressgeplagten Zeit haben sich Yoga und Ayurveda immer mehr verbreitet, inzwischen sind es in Deutschland ca. 6 – 8 Millionen Menschen, die sich mit diesen Systemen aktiv beschäftigen. Beide Ansätze bieten einen Weg zu mehr Ausgeglichenheit, Harmonie und Freude an. Aber wie unterscheiden sie sich? Gibt es Widersprüche oder stimmen beide überein?

Bei den Lebenszielen zählt der Ayurveda in der Caraka Samhita drei Faktoren auf: Gesundheit, Wohlstand und die geistige Entwicklung. Wir sollten uns um alle drei kümmern:

  • um die Gesundheit durch eine ayurvedische Lebensweise kombiniert mit Meditation und Yoga,
  • um den Wohlstand, damit wir uns keine Sorgen um unseren Lebensunterhalt machen müssen; denn Existenzängste bedeuten immer Stress. Eine erfüllende Tätigkeit in der Welt macht Freude und ernährt uns.
  • um die geistige Entwicklung durch Selbsterforschung und Selbsterkenntnis. Meditation, ganzheitliche psychologische Therapien u.v.m. können uns da helfen.

Nur wenn wir uns um alle Ziele gleichermaßen kümmern, ist unser Leben in der Balance. Zu viel geistiges Streben kann den Körper erschöpfen und krank machen. Zu viel Streben nach Gesundheit lässt uns ängstlich und neurotisch werden. Zu viel Streben nach Wohlstand ist die Krankheit unserer heutigen Zeit. Die Menschen finden keine Ruhe mehr, weil sie sich nur noch im Hamsterrad drehen.

Yoga ist eigentlich ein Oberbegriff für alle Methoden der geistigen Entwicklung. Er umfasst eine reiche Tradition von vielen Tausend Jahren und hat ganz unterschiedliche Richtungen hervorgebracht, von denen wir einige nennen wollen:

  • den königlichen Weg der Meditation und Selbsterforschung (Raja Yoga),
  • den Weg der Hingabe und des Herzens (Bhakti Yoga),
  • den Weg des aktiven Handelns, ohne sich in die Welt zu verstricken
    (Karma Yoga),
  • den Weg des Ausgleichs der Sonnen- und Mondenergien (Hatha Yoga)
  • den Weg der Erweckung der grundlegenden göttlichen Lebenskraft
    (Kundalini Yoga).

Gemeinsam ist allen diesen Richtungen, dass es letztlich um die Erfahrung des Selbst (Atman) geht, die Entdeckung unserer eigenen innersten Natur, die Erkenntnis unserer eigenen innewohnenden Göttlichkeit. Das Selbst (Atman) ist ewig und frei. Wer sein Selbst erlebt, gelangt in einen Zustand unendlichen Glücks und vollkommener Freiheit, der mit Worten nicht zu beschreiben ist.

Der Sanskritbegriff für Gesundheit (Svasthya), der in den ayurvedischen Texten häufig benutzt wird, bedeutet wörtlich: „das Ruhen im Selbst“. Sva ist das Eigene, und das Einzige, was uns wirklich gehört, ist das Selbst; denn wir sind das Selbst, das Selbst ist unsere eigentliche Natur. Alles andere sind nur sekundäre Bezeichnungen wie Name, Alter, Beruf und Familienstand.

Wenn wir gesund sind, dann wird unser Geist nicht vom Körper gestört. Insofern ist Gesundheit ein wesentlicher Faktor, der zur geistigen Entwicklung gehört. Der Autor des klassischen Yoga-Leitfadens (Yoga Sutra des Patanjali, Sutra 1.30) nennt Krankheit als erstes Hindernis auf dem Weg des Yoga. Wer schon einmal versucht hat, bei starken Zahn- oder Kopfschmerzen zu meditieren, weiß, dass die Gedanken und Wahrnehmungen ganz von dem Schmerz und nicht vom Selbst eingenommen werden. Nur bei längerer Meditationserfahrung gelingt es, durch den Schmerz hindurch auf eine innere Ebene jenseits des Schmerzes zu tauchen. Körperliche Beschwerden wie z.B. Rückenschmerzen können uns daran hindern, die Asanas zu praktizieren.

In diesem Sinne unterstützt der Ayurveda den Yoga, indem er eine gute Basis für das geistige Streben schafft. Auch wenn die letztendliche geistige Freiheit unabhängig von den köperlichen Funktionen ist, bedeutet die Krankheit ein Hindernis auf dem Weg. Das Ziel des ganzheitlich orientierten Yoga ist die Integration des Lebens, d.h. es geht um die Harmonisierung des körperlich-materiellen und des geistig-seelischen Seins. Wie der Ayurveda auch ist er kein Weg der strengen Askese, sondern ein Weg der Mitte, der von jedem Menschen ausgeübt werden kann, egal in welcher Lebenssituation er sich befindet.

Die Lenkung der Lebensenergie

Auch wenn es in manchen Büchern immer noch falsch steht, handelt es sich bei den Doshas Vata, Pitta und Kapha nicht um materielle Substanzen, sondern um verschiedene Aspekte der Lebensenergie, die sich aber auch körperlich in Form von Substanzen zeigen kann. In der modernen Medizin beginnt man schrittweise, den Mensch als ein hochkomplexes bioenergetisches System zu begreifen. Lebendige Materie lässt sich über die Eigenschaften der Dynamik und der Selbstorganisation beschreiben. In einem energetischen System hängt alles mit allem zusammen, so kommt es auch zu Fernwirkungen: Eine Störung im Fuß kann sich beispielsweise in der Form von Nackenschmerzen ausdrücken.

Die Doshas haben zwar ihren jeweiligen Hauptsitz im Körper, von dem aus sie wirken, aber eigentlich sind alle Doshas überall im Körper gegenwärtig. Dies wird noch deutlicher, wenn man die jeweils fünf Subdoshas genauer betrachtet. Schon in den alten vedischen Texten werden die fünf Aspekte von Vata, die Lebenshauche (Prana), genannt:

  1. Prana, der sich im Brust und Halsbereich mit der Tendenz nach oben bewegt
  2. Udana, der direkt für nach oben gehende Bewegungen insbesondere die Spracherzeugung sorgt
  3. Vyana, der im Herzen sitzt und die willentlich zugängliche Muskulatur
    aktiviert
  4. Samana, der im Unterleib die Verdauungsfunktionen reguliert
  5. Apana, der nach unten gehend insbesondere die Ausscheidungsfunktionen stützt.

Auch der Yoga beschreibt die Lebensenergien und tut dies gerade in Begriff en der fünf Pranas. Er will aber die natürliche Funktion verändern und einen neuen Funktionsmodus auf einer höheren Energieebene etablieren; dies wird die Erweckung der Kundalini-Shakti genannt. In der Hathayoga-Pradipika werden die Verschluss- oder Schleusentechniken (Bandha) beschrieben, dies sind insbesondere Mulabandha (u.a. eine Kontraktion des Beckenbodens), Uddhiyana Bandha (u.a. Bauchmuskeln nach hinten ziehen) und Jalandhara Bandha (u.a. Kinn und Brust in eine bestimmt Position bringen).

Mit diesen Methoden und speziellen Atemtechniken (Pranayama) wird die Lebensenergie nach oben gelenkt, so dass schrittweise alle Energiezentren (Cakra) aktiviert werden. Insbesondere Apana und Prana werden verändert, so dass es zu einer Zentrierung der Energie und damit auch zu einem feurigen Prozess kommt, der die Lebenskraft intensiviert. Im Ayurveda kann man in der Caraka-Samhita genaueres über Ojas lesen, das als feine Lebensenergie im Herzen sitzt. Diese Ausführungen sind nur im Lichte einer vertieften Yogapraxis verständlich.

Yoga und Ayurveda sind beides bewährte Systeme, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig ergänzen. Man kann viel für seine Gesundheit tun, sollte aber darüber das geistige Fundament nicht vergessen. Wer nach innen schaut, kann im Außen harmonisch leben.


Heft 16 – Yoga und Ayurveda

Dieses Heft ist leider nicht mehr verfügbar.