Neben der Pulsuntersuchung stellt die Inspektion der Zunge (Jihva Pariksha) eines von acht klassischen Untersuchungsverfahren im Ayurveda dar. Bereits im traditionellen Kompendium Ashtanga Samgraha Samhita wurden Zeichen einer jeweils von Vata, Pitta, Kapha und Blut „verdorbenen“ Zunge beschrieben.

Unsere Zunge liegt auf dem Boden der Mundhöhle und ist ein zum oberen Verdauungstrakt zählendes Muskelorgan. Sie wird in Zungenwurzel, Zungenkörper und Zungenspitze gegliedert, äußerlich lassen sich Rücken, Unterseite und Rand der Zunge unterscheiden. Physiologisch ist die Zunge am Kauen, Saugen, Schlucken und Sprechen beteiligt.

Als Sinnesorgan können wir mit ihr schmecken und tasten. Traditionelle Medizinsysteme aus Asien und Europa sehen in der Zunge seit jeher ein wertvolles Diagnoseinstrument, um den Gesundheitszustand eines Patienten zu beurteilen. Auch die moderne Schulmedizin überprüft Zungen im Rahmen einer körperlichen Untersuchung und korreliert einige Zungenzeichen mit bestimmten Erkrankungen (z. B. die Erdbeerzunge bei Scharlach, die Lackzunge bei Vitamin-B12-Mangel oder die bläuliche Zunge bei Minderdurchblutung).

In der ayurvedischen Medizin wurden schriftlich nur spärliche Informationen zur Zungendiagnostik traditionell überliefert. Dennoch lassen sich gemäß meiner persönlichen Praxiserfahrung von über 20 Jahren folgende diagnostische Informationen über das Zungenbild ableiten:

  • Zustand von Vata, Pitta und Kapha und ihrer jeweiligen Eigenschaften
  • Zustand der beiden ersten Körpergewebe Rasa (Nährsaft) und Rakta (Blut)
  • Verschleimung (Kapha Mala)
  • Belastung mit unverdauten Rückständen (Ama)
  • degenerative und entzündliche Prozesse
  • psychovegetative Zustände

Sehr wichtig

Die Zunge zeigt keine direkten Krankheiten, sondern deren Pathogenese und Pathophysiologie an. Erfahrene Diagnostiker können somit die Eigenschaften und Entwicklungsprozesse einer Bronchitis über die Zunge erfassen – es gibt aber kein pauschales Zungenzeichen, dass eindeutig für eine Bronchitis steht.

Im Vergleich zur Pulspalpation bietet die Zungeninspektion gewisse Vorteile

  • Sie ist mit Hilfe einer Fotodokumentation objektivierbar, ein fachlicher Austausch mit Kollegen ist anhand der Vorlage ebenfalls möglich.
  • Der Patient kann anhand von Vorher-Nachher Bildern die Veränderung mit eigenen Augen erfassen und wird somit direkt motiviert, zudem ist die Verlaufskontrolle einer Therapie langfristig bildlich möglich.
  • Der Patient kann die Zunge morgendlich im Spiegel betrachten und seine Erfahrungen mitteilen.
  • Die Zunge ist im Gegensatz zum Puls von akuten emotionalen Zuständen weitgehend unabhängig.
  • Die Zunge zeigt Langzeit-Zustände umfassender an und verrät uns somit viel über die Geschichte eines Patienten.

Der Puls vermittelt feinere Zusammenhänge des Nervensystems und repräsentiert speziell das Prana Vata im menschlichen Körper. Die Zunge repräsentiert als Teil des Magen-Darm-Traktes speziell den Zustand unserer Verdauungs- und Stoffwechselkraft Agni.
Der Puls ist somit durch mentale Zustände schnell irritierbar, die Zunge verändert sich täglich gemäß Ernährungsverhalten und Verdauungslage.

Durchführung einer Zungenuntersuchung

Die besten Lichtverhältnisse zur Inspektion einer Zunge herrschen bei Tageslicht am frühen Morgen. Alternativ kann mit Halogenlicht an dunklen Tagen oder zu dunklen Tageszeiten gearbeitet werden.

Zunächst streckt der Patient einmalig locker die Zunge nach vorne heraus, damit der Therapeut einen Ersteindruck erhält, ohne bereits einzelne Stellen im Detail zu fokussieren. Die Zunge ist ein Muskel, der bei längerer Kontraktion stärker durchblutet und rot wird. Aus diesem Grund sollte die Zunge in der Folge mehrmals kurz herausgestreckt werden, was auch für den Patienten wesentlich angenehmer ist. Bei jedem Herausstrecken der Zunge kann sich der Therapeut auf einen Parameter konzentrieren. Die Gesamtinterpretation erfolgt immer erst am Ende der Aufnahme aller Zungenzeichen.

Drei Parameter lassen sich an der Zunge unterscheiden und bewerten

Zungenkörper

  • Volumen: klein oder groß, dünn oder dick/geschwollen, kurz oder lang, schmal oder breit
  • Oberfläche: glatt oder rau, rissig oder rissfrei, Erhebungen
  • Feuchtigkeit: trocken oder feucht, schleimig oder klar
  • Farbe: blassrot, blass, livide oder rötlich
  • Bewegung: ruhig, zittrig, schlapprig

Zungenbelag

  • Dicke: dünn, mitteldick, dick
  • Farbe: weißlich, gräulich, bräunlich, gelblich, grünlich, schwärzlich
  • Feuchtigkeit: trocken-alt oder feucht-frisch
  • Topographie: Welches Zungendrittel ist wie belegt?

Unterzungenseite

  • Farbe: blass, livide, rötlich, gelblich
  • Venen: kaum sichtbar, hervortretend, dunkel gefärbt, gestaut-gespannt-gequirlt

Eine topographische Zuordnung von Organen auf der Zunge ist anhand der klassischen Kompendien des Ayurveda schriftlich nicht überliefert worden. Um diese Lücke zu schließen, übertrage ich Konzepte der benachbarten traditionellen chinesischen Medizin und interpretiere diese ayurvedisch. Vereinfacht ausgedrückt lassen sich dadurch drei Zungendrittel  voneinander unterscheiden: Das hintere Drittel korreliert mit Vata-Sthana (Sitz von Vata im Unterleib), das mittlere Drittel mit Pitta-Sthana (Sitz von Pitta im mittleren Abdomen) und das vordere Drittel mit Kapha-Sthana (Sitz von Kapha im Thorax).

Die gesunde Zunge ist mittelgroß, ihre Oberfläche glatt und rissfrei, sie ist gut durchfeuchtet ohne Schleimauflagerung, ihre Farbe ist blassrot, der Belag hell und dünn wie frischer Morgentau im hinteren Zungendrittel und die Unterzungenvenen sind in Ruhe kaum sichtbar.
Erhöhtes Vata zeigt sich in der Zunge durch Volumenverlust, raue und rissige Oberfläche, Trockenheit und Blässe. Der Zungenbelag ist eher dünn und gräulich, die Unterseite blass und die Venen neigen zu leichter Lividität (bläuliche Verfärbungen).

Erhöhtes Pitta lässt eine mittelvolumige Zunge einschließlich Unterseite erröten, der dünne Belag ist gelblich verfärbt und der Zungenkörper zeigt sichmuskulös. Die Existenz roter Erhebungen zeigt zudemoft die Beeinträchtigung des Blutgewebes im Sinne eines Raktadushti (Verunreinigungen des Blutes) an.

Erhöhtes Kapha lässt den eher blassen, großen und feuchten Zungenkörper anschwellen, was oft Zahneindrücke zur Folge hat. Zungenbeläge sind ebenfalls feucht und von weißlicher Farbe, die Unterzungenvenen ggf. etwas geschwollen, aber farblich blass und unauffällig. Die Stärke des Agni sinkt mit der Zunahme von Kapha und mündet unkontrolliert in die Entwicklung von Ama. An der Zunge zeigt dieses Ama ein ähnliches Bild wie das beschriebene von Kapha mit Zusatz der Belagverdickung, Verklebung und Schwellung im Sinne einer prallen Aufgedunsenheit. Die Belagfarbe richtet sich bei Ama nach der Assoziation mit den jeweiligen Dosha und kann somit weißlich (SamaKapha), gelblich-grünlich (Sama-Pitta) oder gräulichschmutzig (Sama-Vata) erscheinen.

Betrachten Sie künftig jeden Morgen Ihre Zunge im Spiegel, bevor Sie den vorhandenen Belag im Rahmen Ihrer Morgenroutine abschaben. Somit erhalten Sie täglich ein wertvolles „Bio-Feedback“ aus Ihrem Inneren. Suchen Sie für eine professionelle medizinische Zungenuntersuchung und -interpretation einen erfahrenen Ayurveda-Diagnostiker auf.

Lesen Sie auch:

Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 1: die Pulsdiagnose
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 3: Ausscheidungen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 4: Gesundheit und Krankheit hören
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 5: mit den Händen sehen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 6: in Augen und Antlitz lesen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 7: die Anamnese


Heft 50 – Strahlende Haut

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