Teil 5: Mit den Händen sehen

Ayurvedische Diagnostik beginnt mit dem ersten Händedruck bei der Begrüßung eines neuen Klienten. Wie fühlt sich dieser an? Ist er entschlossen oder zaghaft, hart oder weich, warm oder kalt, trocken oder feucht?

Sparsha bedeutet Kontakt durch Berührung. Sparsha Pariksha ist eines der acht ayurvedischen Untersuchungsverfahren – und ein ganz besonderes. Mit seinen Händen fühlt der Therapeut in den Patienten hinein und nimmt Eigenschaften wahr.

Die Palpation ist eine der ältesten Untersuchungsverfahren der Medizin und gehört neben Inspektion (Betrachtung), Auskultation (Abhören) und Perkussion (Abklopfen) zu den Basistechniken einer modernen klinischen Untersuchung. Die wichtigsten Strukturen, die getastet werden können, sind die Haut und ihre Anhangsgebilde (Haare und Nägel), das darunterliegende Fettgewebe, die Muskulatur, Knochen, Gelenke und in der Tiefe liegende Organe.

Auch die ayurvedische Pulsdiagnostik, die wir bereits zu Beginn dieser Artikelserie behandelt haben, zählt im erweiterten Sinne zur palpatorischen Diagnostik. Aufgrund ihrer Bedeutung wurde ihr allerdings eine eigene Säule innerhalb der acht klassischen Untersuchungsverfahren zugeordnet.

Die Untersuchung der Haut

Von allen fühlbaren Strukturen stand im klassischen Ayurveda die Haut im Vordergrund. Oft wird daher auch heute noch Sparsha Pariksha als „Hautuntersuchung“ übersetzt.

Die Haut ist nicht nur das größte Organ unseres Körpers, sie ist auch diagnostisch von großer Bedeutung. An keinem anderen Organ können wir Eigenschaften so direkt wahrnehmen und über diese auch auf den Zustand des Körperinneren schließen.

Eigenschaften (Guna) sind im Ayurveda der Schlüssel zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Sie sind Ausdruck der fünf Elemente, aus denen sich jede Zelle unseres Körpers zusammensetzt. Eigenschaften sind die Grundlagen von Vata, Pitta und Kapha, Agni, allen Körpergeweben, Leitungsbahnen und Ausscheidungsprodukten. Halten sich entgegengesetzte Eigenschaften wie heiß und kalt oder leicht und schwer die Waage, entsteht Gesundheit. Kippt das Gleichgewicht zu einer Seite, sind Störungen die Folge.

Untersuchen Sie sich gleich einmal selbst und wählen Sie eine Hautpartie, die Sie analysieren wollen – vielleicht den Unterarm oder das Gesicht. Schließen Sie nun Ihre Augen und fühlen Sie einfach nur.

  • Legen Sie zunächst Ihre Hand auf die Haut und fühlen Sie die Temperatur. Ist sie heiß, warm, neutral, kühl oder kalt? Das Ergebnis gibt Aufschluss über den Zustand des Feuerelementes, das als einziges der fünf Elemente Wärme verleiht.
  • Nun heben Sie eine Hautfalte an und lassen sie diese nach ein paar Sekunden wieder los. Fühlt sie sich dünn oder dick an, lässt sie sich leicht oder schwer abheben? Bleibt sie nach dem Loslassen abgehoben oder zieht sie sich gleich wieder zurück? Hiermit testen wir die Eigenschaften leicht und schwer.
  • Streichen Sie nun über die Haut und fühlen Sie an ihr die Eigenschaften trocken oder feucht / ölig, rau oder glatt, hart oder weich. Eine durch hohes Vata dominierte Haut fühlt sich leicht und dünn, kalt, trocken, rau und hart an. Starkes Pitta erhitzt die Haut, erzeugt Schweiß und etwas Öligkeit. Steht Kapha im Vordergrund, wirkt die kühle Haut weich und glatt, dick und feucht.

Passives und aktives Tasten

Das passive Tasten erfolgt nur mit der Haut. Hierzu legen wir unsere Hand auf den Körper und spüren mögliche Bewegungen unter ihr. Auch die ayurvedische Pulsdiagnostik basiert auf passivem Tasten mit drei Fingern in drei Tiefen. Das aktive Tasten erfolgt mit Haut und Muskulatur. Unsere Hand bewegt sich und fühlt die unter ihr liegenden Strukturen. Aktives Tasten ist deutlich leistungsfähiger und spielt daher in der Diagnostik eine übergeordnete Rolle.

Massagetherapie ist auch palpatorische Diagnostik

Während meiner zwölfjährigen stationären Kurarbeit trafen wir uns morgens direkt nach der Visite am Patientenbett mit allen Therapeuten im Team, tauschten die neuesten Erfahrungen aus und planten das weitere Vorgehen.

Besonders wichtig waren dabei die Rückmeldungen unserer Massageabteilung zu jedem einzelnen Kurgast. Immerhin standen die Manualtherapeuten täglich ein bis zwei Stunden im direkten Körperkontakt mit den Patienten. Und einem aufmerksamen Therapeuten entgeht in der ayurvedischen Ganzkörperölmassage kaum ein Quadratzentimeter.

Vor allem in Südindien massieren Ayurveda-Ärzte häufig selbst ihre Patienten und verbinden damit Diagnostik und Therapie. Die dort angesiedelte Kalari-Therapie berücksichtigt zudem diagnostisch den Zustand von Muskeln, Knochen und Gelenken sowie den sich daraus ergebenden Vitalpunkten (Marma).

In Nordindien sind die Aufgaben etwas klassischer verteilt. Ärzte widmen sich vorrangig der Diagnostik und Verordnung und führen eigenständig nur spezielle, meist invasive Verfahren des Panchakarma oder der ayurvedischen Chirurgie durch.

Die psychologische Dimension der haptischen Kommunikation

Ich erinnere mich sehr gerne an eine Reihe von „unangenehmen“ Zahnarztterminen zur Grundsanierung vor einigen Jahren. Sicherlich kennen auch Sie diese stundenlangen Sitzungen bei geöffnetem Mund, schmerzhafte Bohrungen und die entsetzlichen Geräusche der zum Einsatz kommenden Apparaturen. Viele meiden sogar Zahnarztbesuche aus genau diesem Grund.

In meiner ersten Sitzung erlebte ich etwas Außergewöhnliches: Die Zahnarzthelferin legte vor Beginn und während der gesamten Behandlungsdauer ihre warme Hand sanft auf meine Schulter und ich fühlte mich so geborgen, beschützt und ruhig.

Andere zu tasten bedeutet immer auch, getastet zu werden. Deshalb entsteht durch Berührung eine außergewöhnliche Nähe zwischen Therapeut und Klient, die im Heilungsprozess von großer Bedeutung sein kann. Wir können Menschen im wahrsten Sinne des Wortes tief berühren: durch einen mitfühlenden Händedruck oder eine herzliche Umarmung, wenn es der Moment ermöglicht.

Durch achtsame, mitfühlende Berührung lassen sich Ängste lindern, Spannungen lösen, Unruhezustände befrieden, und es entsteht ein heilsamer Kontakt jenseits aller Worte. Manchmal geben mir Patienten nach einer Erstuntersuchung die Rückmeldung, dass sie sich bereits besser fühlen – vor Beginn der eigentlichen „Behandlung“. In der ganzheitlichen Ayurvedamedizin lösen sich in diesen Momenten die starren Grenzen von Diagnostik und Therapie einfach auf.

Lesen Sie auch:

Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 1: die Pulsdiagnose
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 2: die Zungendiagnose
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 3: Ausscheidungen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 4: Gesundheit und Krankheit hören
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 6: in Augen und Antlitz lesen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 7: die Anamnese


Heft 54 – Entschleunigung

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Entschleunigung.