Teil 7: Pariksha – die Anamnese

Unsere zweijährige Rundreise durch die ayurvedischen Diagnosetechniken begann im März 2016 (Heft 49) mit der Pulsdiagnose und führte uns über die Zungeninspektion, die Analyse der Ausscheidungen, die Untersuchung durch Hören und Fühlen bis zur Augen- und Antlitzdiagnose.

Den Abschluss unserer Reise bildet nun die ayurvedische Anamnese, Prashna Pariksha genannt. Prashna bedeutet Frage, Pariksha Untersuchung. Das Wort „Anamnese“ stammt aus dem Griechischen und heißt „Erinnerung“. Der Therapeut befragt den Patienten systematisch, um dessen Leidensgeschichte analytisch zu erfassen und zu verstehen.

Die Anamnese und die acht Untersuchungsverfahren (Puls, Urin, Stuhl, Zunge, Hörbares, Fühlbares, Augen und Antlitz) mittels der fünf Sinne des Therapeuten bilden zusammen die ayurvedische Diagnostik.

Zeit für den Menschen und das Gespräch

Erstanamnesen in westlichen Arztpraxen dauern oft nicht länger als 15 Minuten, in denen die wesentlichen Beschwerden im Mittelpunkt stehen. Daran schließen sich körperliche, apparative und laboratorische Untersuchungen an, um zuletzt eine Diagnose zu stellen. Im Ayurveda ist die Untersuchung des erkrankten Menschen wichtiger. Nicht die Krankheit, sondern ihr Träger mit seiner Konstitution und ganzen Biografie steht im Fokus unserer Aufmerksamkeit.

Die wichtigsten Güter unserer diagnostischen Arbeit sind Zeit und ungestörte Aufmerksamkeit. Nur so können wir den Menschen als Ganzes empathisch erfassen, Ursachen und Wirkungen erkennen und eine gemeinsame Strategie zur Auflösung von Leid entwickeln.

Der Aufnahmebogen

Wenn Patienten meine Praxis zu einer Erstkonsultation aufsuchen, bringen sie zwei Stunden Zeit mit. Nach der persönlichen Begrüßung und kurzen Einweisung in den Ablauf füllen sie in aller Ruhe einen dreiseitigen Aufnahmebogen aus.

Dieser erhebt Daten zur Person, gesundheitliche Parameter (zum Beispiel die aktuelle Medikamenteneinnahme, bisherige Operationen, Allergien und Unverträglichkeiten, Körper- oder Psychotherapien in der Vergangenheit) und grundlegende Informationen zur gegenwärtigen Ernährung und Lebensweise. Ich empfehle allerdings, lediglich konkrete Daten und Fakten über Fragebögen zu entnehmen und alle intimen, sensiblen Informationen im direkten Gespräch zu erfassen. Nach 15 bis 20 Minuten bitte ich den Patienten in mein Sprechzimmer.

Das Anamnesegespräch

„Was führt Sie zu mir?“ Diese Frage bevorzuge ich als Einleitung meines Anamnesegesprächs, das sich aus sieben Bereichen zusammensetzt:

  • Die Beschwerdeanamnese erfasst aktuelle Symptome anhand aller W-Fragen: Seit wann? Weshalb entstanden? Wo lokalisiert? Wie charakterisiert? Was verbessert, was verschlechtert?
  • Die Therapieanamnese erfasst bislang erfolgte Maßnahmen und deren Ergebnisse.
  • Die vegetative Anamnese umfasst die wichtigsten physiologischen Parameter wie Appetit, Durst, Stuhl- und Harnentleerung, Menstruation, Sexualität, Temperaturempfinden und Schweißverhalten sowie Schlafqualität und Energieniveau.
  • Die Systemanamnese deckt bislang nicht erwähnte Auffälligkeiten im Rahmen eines Kopf-Fuß-Schemas ab. Die Orientierung kann entweder an westlichen Organsystemen oder an den ayurvedischen Strukturen (Gewebe, Zirkulationsbahnen) erfolgen.
  • Die Familienanamnese erfasst den gesundheitlichen Status von Eltern, Großeltern, Geschwistern und Kindern sowie mögliche Hinweise auf erbliche Prädispositionen.
  • Die biografische Anamnese widmet sich der Aufnahme bedeutender Ereignisse in einzelnen Lebensphasen und beinhaltet Informationen zum Berufsleben, zu sozialen Beziehungen sowie akuten und chronischen Stressbelastungen.
  • Die spirituelle Anamnese ermittelt persönliche Werte, Überzeugungen und Glaubenssätze und deren Bedeutung für die gemeinsame Therapie.

Als Therapeut sind wir im Aufnahmemodus, hören aufmerksam zu und fragen gezielt nach. Nach der Aufnahme aller Symptome stellen wir uns die Frage, welche Ursachen ayurvedisch erkennbar sind und wie sich die Beschwerden entwickelt haben.

Ayurveda-Diagnostik basiert vorrangig auf der Zuordnung von ermittelten Eigenschaften zu den Doshas Vata, Pitta und Kapha. Auch der Zustand von Agni, dem Körperfeuer, wird beurteilt. Die Aufmerksamkeit sollte auf Fragen liegen, die genauer analysieren, „was verbessert“ und „was verschlechtert“ das jeweilige Symptom.

Die Dauer eines Erstanamnesegesprächs variiert gemäß Anliegen zwischen 60 und 90 Minuten. Daran schließt sich die körperliche Untersuchung an. Zuletzt fasse ich alle diagnostischen Erkenntnisse für den Patienten in verständlicher Sprache zusammen und stimme gemeinsam die ersten drei Behandlungsziele ab, an denen wir den Erfolg unserer Therapie messen können.

Der Therapieplan

Die Erstellung eines schriftlichen Befundberichts und Therapieplans kann nun entweder direkt erfolgen oder postalisch nachgereicht werden. Ich bevorzuge meist die direkte Variante. Währenddessen hat der Patient etwa eine halbe Stunde Pause, in der er entspannen und das Gespräch noch einmal reflektieren kann.

Der Therapieplan umfasst bedarfsgemäß alle acht Säulen des Ayurveda

  • Empfehlungen zur konstitutions- und zustandsgerechten Ernährung
  • Maßnahmen zur gezielten Lebensstiländerung
  • Rezept über Nahrungsergänzungsmittel aus dem ayurvedischen Formenkreis
  • Integration von Ausleitungsverfahren in ambulanter oder stationärer Durchführung
  • Anwendung von Manualtherapien wie Massagen, Ölungen und Hydrotherapie
  • Stellungnahme zu möglichen operativen Eingriffen aus ayurvedischer Sicht
  • psychosomatische und somatopsychische Interventionen
  • subtile Verfahren zur Stärkung von Vertrauen und Einbeziehung des großen Ganzen

Nach Klärung aller offenen Fragen kann die Therapie beginnen. Wir stimmen einen Folgetermin zur Auswertung der erfolgten Maßnahmen in drei bis sechs Wochen ab und klären mögliche Kommunikationswege bei kurzfristig erforderlichen Rückfragen.

Eine erfolgreiche Behandlung ist nicht nur das Ergebnis angewandter Therapiemaßnahmen. Die Kraft der Heilung wird maßgeblich durch die Beziehung des Patienten zum Therapeuten beein-flusst. Unsere einfühlsame Anamnese schafft dafür eine wichtige und wesentliche Grundlage.

Lesen Sie auch:

Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 1: die Pulsdiagnose
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 2: die Zungendiagnose
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 3: Ausscheidungen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 4: Gesundheit und Krankheit hören
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 5: mit den Händen sehen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 6: in Augen und Antlitz lesen


Heft 56 – Anti-Aging

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Anti-Aging.