„Körperliche Krankheit wird durch rationale Therapie und ein Verständnis der Ebene, die übergeordnete Ursachen beschreibt, geheilt. Geistige Krankheit benötigt zu dessen Auflösung spirituelles Wissen, rationales Wissen, Geduld, mentale Stärke, Erinnerungsvermögen, Achtsamkeit und meditative Konzentration.“
Caraka Samhita

Der klassische Ayurveda beschreibt die Ursachen für körperliche und geistige Krankheiten in drei Bereichen

  1. nicht kompensierbare klimatische Einflüsse (Parinama),
  2. unangemessener Gebrauch unseres Verstandes (Prajnaparadha) und
  3. unzuträglicher Kontakt der Sinnesorgane mit ihren Objekten (Asatmyendriyarthasamyoga).

Zur Behandlung körperlicher Beschwerden stehen mit den zentralen Säulen der Ernährung, gesunden Lebensführung, Phytotherapie, Manualtherapie und Ausleitungsverfahren des Panchakarma effektive Maßnahmen zur Verfügung. Wie können jedoch geistige Krankheiten (Manasa Roga) erfolgreich therapiert werden? Wie stärken wir geistige Funktionen? Und wie können wir die Geistesqualität Sattva (Reinheit, Klarheit und Intelligenz) steigern und übermäßige Einflüsse von Rajas (Leidenschaftlichkeit) und Tamas (Trägheit und Unwissenheit) reduzieren? Direkte Antworten auf das WIE werden in den klassischen Texten kaum vermittelt.
Als ich 1994 im Ayurveda Studium in Indien erstmals meinen Lehrern diese Frage stellte, lachten sie zunächst und antworteten ohne zu zögern: „Don’t look for a quick solution – the day will come when you understand how to balance the mind.“ Nun ja, heute nach 16 Jahren habe ich verstanden, dass es keine Musterlösung für diese Fragestellung gibt.

Unser Geist agiert und reagiert komplexer als unser Körper. Die dem Körper zugrundeliegenden Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum) lassen sich leicht vermehren oder verringern und mit ihnen die Doshas Vata, Pitta und Kapha direkt beeinflussen. Gewebe und Kanäle können rational therapiert, Abfallprodukte entsorgt, Verdauung und Stoffwechsel gezielt stimuliert oder gehemmt werden. Wie lassen sich jedoch mentale Zustände von Angst, Wut und Verzweiflung und deren Auswirkungen auf den Körper korrigieren? Körper und Geist stehen über die Sinnessysteme in ununterbrochener Beziehung zueinander, somit laufen ständig psychosomatische und somatopsychische Vorgänge ab.

Ayurveda und Psychosomatik

Von 2006-2009 hatte ich die Gelegenheit, als Leiter der Ayurveda Privatklinik in Bad Nauheim in unmittelbarer Nachbarschaft zur Klinik für Psychokardiologie gemeinsame Patienten zu therapieren und die Auswirkungen unserer Maßnahmen durch Ayurveda und Yoga an zahlreichen psychosomatisch erkrankten Menschen zu beobachten.

Gerne möchte ich im Folgenden meine zentralen Erkenntnisse zusammenfassen:

Ayurveda erfasst Bedürfnisse

Unser Körper braucht Energie, die er über Nahrung und Atmung aufnimmt. Natürliche körperliche Bedürfnisse werden in Form von 13 Drängen beschrieben, die keinesfalls unterdrückt werden sollten. Das Bewusstmachen weiterer persönlicher Bedürfnisse ist der erste Schritt zu deren ganzheitlicher Befriedigung. Unbefriedigte Bedürfnisse sind häufig Ausgangspunkt psychopathologischer Entwicklungen.

Ayurveda stärkt Werteorientierung

Sadvritta wird die ethische Maxime im Ayurveda genannt. Werte wie Gesundheit, Langlebigkeit, Schönheit, Frieden, Harmonie, Reinheit, Hilfsbereitschaft oder Empathie erhalten im Ayurveda eine neue, praktisch anwendbare Dimension. Werte sind eine primäre Quelle der Motivation.

Ayurveda stärkt Selbstvertrauen

Unsere individuelle Natur (Prakriti) beinhaltet Anlagen von Fähigkeiten und Stärken sowie Anfälligkeiten und Schwächen. Die Kenntnis über unseren körperlichen und geistigen Wesenskern sowie Talente und unterscheidenden Merkmale eröffnet uns Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in privater und beruflicher Hinsicht.

Ayurveda fördert die Zielorientierung

Die vedische Kultur beschrieb schon vor Jahrtausenden vier Lebensziele, die der Ayurveda in sein Modell integrierte: ethisch-moralische Rechtschaffenheit (Dharma), Wohlstand (Artha), sinnliche Erfüllung (Kama) und das Streben nach Befreiung (Moksha). Individuelle Ziele lassen sich einer dieser vier Gruppen unterordnen. Definierte Ziele des Ayurveda sind die Gesundheit zu erhalten, Krankheit zu heilen und die Lebensspanne bei bestmöglicher Gesundheit zu verlängern. Therapeutische Strategien sind im Ayurveda zielorientiert.

Ayurveda und Yoga regulieren Spannung

Das vegetative Nervensystem wird durch den antreibenden Sympathikus und regenerierenden Parasympathikus geregelt. Gesundheit ist ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden regulatorischen Systemen. Wir konnten durch tägliche Messungen der Herzratenvariabilität als wertvollen Indikator des vegetativen Gleichgewichts unserer stationären Patienten die regulierende Wirkung yogischer Atem- und Konzentrationsübungen und ayurvedischer Therapien wie dem Stirn-Ölguss (Shirodhara) nachweisen.

Je regelmäßiger die Anwendungen erfolgten, desto anhaltender war die Wirkung auf die sogenannte Herzkohärenz und damit die Anpassungsfähigkeit unseres Herzens an interne und externe Veränderungen mit der Möglichkeit einer Rückkopplung zum Denken, Erleben und Verhalten.

Yoga steigert Achtsamkeit

Der Schlüssel zur Steigerung der drei geistigen Fakultäten des Unterscheidungsvermögens (Buddhi), der Entschlossenheit (Dhriti) und des Erinnerungsvermögens (Smriti) ist die Achtsamkeit. Yoga trainiert den Geist, bewusst im Hier und Jetzt zu leben und fördert die Fähigkeit der Fokussierung auf einen materiellen oder immateriellen Sachverhalt. Die spirituelle Dimension des Yoga kann Menschen helfen, persönliche Schwierigkeiten und Schicksalsschläge mit mehr Gelassenheit, Demut und Würde zu begegnen. Diese Qualitäten konnte ich v.a. bei vitalbedrohlich erkrankten Patienten feststellen, leider manchmal zu spät.

Ayurveda lehrt uns die Bedeutung der Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft, Übernahme von Selbstverantwortung und Entwicklung gesundheitlicher Disziplin zur Unterstützung unseres Körpers und Entwicklung geistiger Fähigkeiten.

Das begleitende therapeutische Gespräch ist für jede erfolgreiche Ayurveda Therapie ausschlaggebend und sollte meiner Ansicht nach Grundlage der ayurvedischen Ausbildung sein. In meiner täglichen Arbeit mit psychosomatisch erkrankten Patienten spielen die Kommunikation und der Kontakt eine entscheidende Rolle für den Heilungsprozess.

Zusammenfassend möchte ich vermitteln, dass die Anwendung ayurvedischer und yogischer Prinzipien die moderne psychosomatische Therapie wertvoll unterstützt und in manchen Fällen sogar ersetzen kann. In anderen Fällen wie etwa posttraumatischen Störungen ist eine Psychotherapie unabdingbar – diese kann allerdings durch Ayurveda und Yoga sinnvoll unterstützt werden.

Unbedingte Voraussetzung für eine Ayurveda-Yoga-Therapie bei psychosomatischen Problemen ist eine genaue psychologische Diagnostik. Nutzen Sie die Synergien von Ayurveda, Yoga und psychosomatischer Medizin!


Heft 25 – Yoga und Therapie

Im Ayurveda Journal Heft 25 ist der Schwerpunkt auf die heilende Wirkung des Yoga gelegt. Die wohltuende Balance von Körper und Geist, herbeigeführt durch die jahrtausendealten Asanas aus der indischen Tradition.