Wer vom Ziel nicht weiß,
kann den Weg nicht haben,
wird im selben Kreis
all sein Leben traben;
kommt am Ende hin,
wo er hergerückt,
hat der Menge Sinn
nur noch mehr zerstückt.

– Christian Morgenstern (1871-1914)

Die Frage nach dem menschen- und bewusstseinsbildenden Wert von Erziehung sollte im Vordergrund stehen. Werden durch die kurzlebigen Ziele und häufig wechselnden Aktionismen seitens der Bildungspolitiker und Erziehungswissenschaftler folgende Ansprüche erfüllt: Sind die jungen Menschen am Ende der Schulzeit in der Lage, gelerntes Denken, Urteile und Informationen auf sich selbst, die Gegenwart und die Welt anzuwenden? Sind sie befähigt, sich selbst zu ergreifen und sind sie mit Selbstbewusstsein und Mut ausgestattet? Kann der Schulabgänger seinen eigenen Lebensentwurf gestalten? Wurden ausreichend seelische Kräfte freigesetzt? Stellen Moral, Ehrfurcht, Hingabe und Nächstenliebe nur abstrakte Begriffe dar oder sind sie Teil einer gelebten Gegenwart geworden? Ist eine seelische Begegnung, eine Beziehung zu den Erscheinungen dieser Welt im eigenen Erleben ermöglicht worden?

Findet eine ausreichende Förderung individueller Qualitäten jenseits jeglicher Einpassungsmaßnahmen in unsere Leistungsgesellschaft als zukunftsweisende Voraussetzung und Chance für einen so oft herbeigeschworenen gesunden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Wandel statt? Nur darin sehe ich einen Ausweg aus der Stagnation. Werden Lehrer durch eine wissenschaftslastige Ausbildung mit mangelnder Beachtung des Persönlichkeitsprofils und der Vorbildfunktion befähigt, zu erkennen, was das Kind in welcher Entwicklungs- und Erlebnisstufe für seine individuelle Entwicklung braucht oder mit welcher inneren Konfiguration der Lehrer vor eine 1. Klasse zu treten hat und was anders ist, wenn er vor einer 7. Klasse oder vor einer Oberstufenklasse steht?
Können die Bildungsziele und eingeschlagenen Wege stimmig sein, wenn wachsende Unzufriedenheit, Erschöpfung und Müdigkeit von Kindern und Lehrern sowie zunehmende Befindlichkeitsstörungen wie Kopfschmerzen, Bauchweh und Schlafstörungen bis hin zu funktionalen Störungen des Nervensystems wie ADHS zunehmen und Gewalt, Mobbing und Gewaltverbrechen an Schulen eskalieren?

Vedische Bildung

Vedische Bildung geht davon aus, dass ein Grad der Wachheit menschlichen Bewusstseins existiert, reines Bewusstsein – der christliche Mystiker Meister Eckehard nannte es das „ledige Gemüt“ – und dass dieser Zustand des Bewusstsein zugänglich ist. Lernziel ist, dass die menschliche Bewusstheit permanent dieser Ebene der Realität gegenüber geöffnet ist. Plato bezeichnete diese Ebene menschlichen Bewusstseins als „das Gute“ (Republik, Buch 7), Friedrich Fröbel (1782-1852), der Begründer des Kindergartens und der Kindergärtnerinnenschulung als das „ewige Gesetz, göttlicher Einheit“ und der amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson als „Einheit, Überseele“.

Diesen Aspekt des Lebens mit all seinen verschiedenen Namen gilt es zu integrieren, soll Erziehung und Bildung vollständig sein. Noch einmal Plato dazu: „Jeder, der weise zu handeln hat, im öffentlichen oder privaten Leben, muss eine Sicht dieses [Guten] erlangt haben.“ Fröbel weiter: „….sie (die Erziehung) sollte ihn (den Menschen) erheben zu einem Wissen über sich selbst und die Menschheit, zu einem Wissen über Gott und die Natur und zu dem reinen und heiligen Leben, wohin solches Wissen führt.“ Dieser einfachste Zustand menschlicher Bewusstheit ist zugleich die Eintrittskarte für eine geordnete, vollständige Gehirnfunktionsweise ohne die immer mehr auftretenden Gehirnläsionen (Stoffwechselstörungen) und den damit verbundenen Beeinträchtigungen. Forschungsergebnisse der Neurodidaktik mit den modernen Mitteln bildgebender Verfahren und EEG Ableitungen belegen dies. Dieser Zustand, in dem für die Übungszeit (in d.R. morgens und abends 5-10 Minuten für Schüler und 20-30 Minuten für Lehrer und Eltern) alle Gedanken- und Gemütsbewegungen zur Ruhe gekommen sind, wird in der klassischen Yoga Literatur, dem Yoga Sutra von Maharishi Patanjali, Yoga genannt (YS, I.2).

Turiya, der Vierte, reines Bewusstsein

„Das Gute“, „die Einheit“, „das Wissen“, die Überseele“ versinnbildlicht eine Erfahrung, die in der Mandukya Upanishad als „Turiya“, der Vierte oder der transzendentale Zustand des Bewusstseins genannt wird.

Einst fragte ein Schüler seinen Lehrer, wie er denn meditieren solle. Der Lehrer überlegte einen Augenblick und antwortete schließlich:“ Wenn du einen Gedanken zu Ende gedacht hast und der nächste noch nicht begonnen hat, gibt es da nicht eine ganz kleine Lücke?“ „Ja,“ erwiderte der Schüler.“ Dann geh und verlängere sie,“ entgegnete sein Lehrer. Über diese Lücke, reines Bewusstsein, sagt Gaudapada, der Lehrer des Lehrers von Shankara: „Es ist Frieden, Wonne und nicht-dual. Dies ist als der Vierte bekannt. Dies ist Atma (Selbst), das es gilt zu verwirklichen“. Das Weltepos Mahabharata beschreibt im Abschnitt der Bhagavad Gita den Sitz reinen Bewusstseins wie folgt:

Die Sinne, sagt man, seien subtil, subtiler als die Sinne ist der Geist, doch feiner als der Geist ist der Intellekt. Das, was jenseits des Intellekts ist, ist er.

– Gita, III.42

Weiter heißt es:

Dieses Wissen ist der König der Erziehung, das Geheimste aller Geheimnisse. Es ist das reinste Wissen und weil es eine direkte Erkenntnis des Selbstes durch Verwirklichung bewirkt, stellt es die Vollkommenheit von Dharma (Rechtschaffenheit, Leben im Einklang mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur) dar.

– Gita, IX.2

Dem Glück auf die Sprünge helfen

Angenommen, die Schüler wären nun mit dem Schulabschluss in der Lage für den eigenen Lebensentwurf. Damit allein haben sie noch keine positive Rückmeldung auf ein Bewerbungsschreiben oder einen Ausbildungsvertrag in der Tasche. Auf diesen berechtigten Einwand antwortet die Vedische Bildung: „Derjenige, der wach ist, wird von den Naturgesetzen ausgesucht“. (Rig Veda). Die Anforderung der Wachheit bezieht sich hier auf den Turiya Zustand des Bewusstseins. Wer diesen Zustand kennt, ist in Ausgewogenheit gegründet. (Rig Veda). Überlegungen, Urteile, Entscheidungen auf der Grundlage einer ausgeglichenen Gemütslage, eines klaren Geistes und im Sein gegründet, unterstützt durch die organisierende Kraft der Naturgesetze, begünstigt den Erfolg.
Denken wir dabei auch an die Selbstorganisation in Natur, Technik und Gesellschaft.   Die Theorie der Selbstorganisation befasst sich mit Systemen, die aus untereinander in Wechselwirkung stehenden Teilsystemen bestehen und die in der Lage sind, spontan, d.h. ohne direkte steuernde Eingriffe von außen, räumliche, zeitliche oder funktionale Strukturen zu bilden. Hierbei wird oft ein hoher Grad an Koordination zwischen den einzelnen Teilen erreicht. Beispiele reichen von physikalischen Systemen wie dem Laser oder Flüssigkeiten bis hin zum Gehirn.

Fortsetzung: Schulfach Yoga
Kontakt und weitere Informationen für Schulgründungs Initiativkreise sowie bestehende Bildungseinrichtungen zur Integration Vedischer Erziehung und Bildung:
Michael Dreyer
Praxis für Gesundheitsförderung und Prävention
Heilpraktiker für Psychotherapie
Yogalehrer (IHK)
Tel. 04205-39 69 70 · www.living-yoga.de