Seit einigen Jahren erleben Yoga-Schulen und -Kursen bei uns im Westen einen regelrechten Boom. Im Vordergrund stehen vielfach die positiven körperlichen Effekte wie physische Gesundheit, Fitness und Entspannung. Ebenso ist über die körperlich-medizinischen Auswirkungen viel nachgedacht und publiziert worden. Aber wie steht es mit den psychologischen Aspekten des Yoga? Ein Erklärungsversuch aus dem Blickwinkel abendländischer Psychologie.

Zwischen dem Yoga und unserem westlichen Verständnis der menschlichen Psyche gibt es viele Schnittpunkte. Die Psychologie versteht sich als eine Wissenschaft des Erlebens und Verhaltens, also der inneren Welt des Menschen. Ebenso der Yoga.

„Der Yoga lehrt uns die Arbeit an der inneren Haltung zu sich selbst, zu anderen und dem Leben im Allgemeinen“

erklären Katrin Hofmann-Unger und Carsten Unger, Autoren des Buches „Yoga und Psychologie“.

Viele Verhaltensmuster sind konstruktiv

Im Yoga, verstanden als eine Wissenschaft des Geistes, sind die Übungen Hilfsmittel, um die Emotionen und den Geist zu klären, zu transformieren. Doch wie funktioniert überhaupt unser Geist, unsere Psyche?

Zur Persönlichkeit eines Menschen gehören charakteristische Verhaltensweisen im Denken, Fühlen und Handeln. Diese basieren zum größten Teil auf dem quasi automatisierten Abspulen von Mustern. Diese ökonomische Verhaltenssteuerung hat einen Sinn: Ein wiederholtes Verhalten wird nicht stets erneut bewusst geplant, sondern als komplettes Verhaltensmuster abgerufen. Ein gutes Beispiel sind Tätigkeiten wie das Autofahren. Solche Automatisierungen bilden sich nicht nur bei Handlungen im Alltag heraus, sondern auch bei der Art und Weise wie wir denken und fühlen.

Schon seit frühester Kindheit entwickeln wir Selbstkonzepte und Glaubenssätze über die Welt. Zum einen durch direkte Erfahrungen: Wir lernen, was zu Erfolg oder Misserfolg, zu einem angenehmen Erlebnis oder zu einem unangenehmen führt. Zum anderen, indem wir Wahrnehmungen, Einstellungen und Werte übernehmen, die von außen an uns herangetragen werden.

Dieses Muster des Denkens, Fühlens und Handelns sind überwiegend hilfreich. Als konstruktive Fähigkeiten ermöglichen sie uns einen angemessenen und erprobten Umgang mit Anforderungen. Viele unserer Gewohnheiten hatten an einem Punkte in unserem Leben eine wichtige Funktion. Sie waren notwendig, um eine Problemsituation zu erleichtern oder zu beenden. Oder um eine angenehme Situation für den Organismus herzustellen.

Blockierende Gewohnheiten auflösen

Schwierig wird es dann, wenn wir uns Gewohnheiten, Selbstkonzepte oder Glaubenssätze aneignen, die unsere persönliche Entwicklung blockieren. Wenn wir stark rauchen oder uns dauerhaft ungesund ernähren, schaden wir uns. Auch ein Selbstbild wie „Ich bringe es einfach zu nichts“ oder „Ich bin nicht attraktiv“, oder der Glaubenssatz „Alle Männer sind schlecht“ beschränkt uns in unserer Entfaltung. Diese Voreinstellungen wirken wie Filter, durch die wir die Welt betrachten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir alle unsere Erfahrung entsprechend interpretieren und sich unser Blick auf die Welt dadurch wiederum bestätigt. Jemand, der von sich denkt „Ich bin beruflich ein Versager“ wird sich durch seine Kritik seines Chefs in seinem Glaubenssatz bestätigt fühlen. Wer von seinem beruflichen Können überzeugt ist, wird vielleicht denken: „Fehler passieren jedem und ich habe wieder etwas dazu gelernt“.

Jeder muss für sich selbst entscheiden, welche Gewohnheiten er als günstig oder ungünstig für seine eigene Entwicklung beurteilt und welche er verändern möchte. Dabei geht es nicht darum, Gewohnheiten mit großer Willensanstrengung zu unterdrücken. Denn jedem dieser Muster liegt ein Bedürfnis zu Grunde, das gesehen werden will. Wenn wir dies vernachlässigen, kämpfen wir gegen einen Teil von uns selbst.

Yoga fördert einen sanften und achtsamen Veränderungs- und Wachstumsprozess. Die Veränderung oder Transformation der Persönlichkeit durch Yoga ist zunächst eine Konfrontation mit den eigenen Verhaltensmustern „Yoga-Üben heißt, sich mit seinen Gewohnheiten auseinanderzusetzen“, konstatieren die Autoren in „Yoga & Psychologie“. Der Weg führt weiter zu einer Dekonditionierung und Endautomatisierung, mit dem Ziel, konstruktive Gewohnheiten auszubilden.

Im Geiste neue Saatkörner pflanzen

Nach der yogischen Philosophie hinterlässt jede Bewegung des Geistes ein Saatkorn. Jede erneute Bewegung in gleicher Weise lässt das Saatkorn wachsen. Das wachsende Saatkorn löst abermals die gleiche Bewegung des Geistes aus. Dieser Ursache-Wirkungs-Zusammenhang in Bezug auf das eigene Handeln wird auch mit dem Begriff Karma bezeichnet.

Durch den Yoga können wir Verhaltenstendenzen eine neue Richtung geben, neue Saatkörner pflanzen und zukünftige Konsequenzen unserer Handlungen bewusster mitgestalten. Das Handeln beginnt aus yogischer Sicht beim Denken und Fühlen. Yoga schult die Haltung einer inneren Achtsamkeit, eine deutlichere Wahrnehmung der inneren Welt. Der Übende kommt zu einer feineren, differenzierten Wahrnehmung seiner Bedürfnisse, Gefühlswelt und Gedankentätigkeit. Dabei wird eine nicht bewertende, zulassende Haltung sich selbst gegenüber eingenommen. Diese Haltung – durch sämtliche Übungen im Yoga erprobt und gefördert – führt schrittweise zu einer stärkeren Selbstannahme. Der Übende nimmt nicht nur sich selbst differenzierter wahr, sondern er erkennt seine zuvor als negativ bewerteten Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle als zugehörig zu sich selbst. Er macht sich seine Verhaltensweisen und Anhaftungen bewusst und erkennt diese an – der erste Schritt zur Veränderung.

Die bewusste Entscheidung für einen neuen Weg

Erst nach einer gründlichen Betrachtung der inneren Gewohnheitsmuster geht es darum, dem Verhaltensimpuls nicht mehr nachzugeben, sondern eine neue Richtung einzuschlagen. Durch diese Loslösung von der alten Verhaltensweise kommt es zu einem inneren Konflikt, einer Reibung. Diese kann als unangenehme Spannung erlebt werden, oder als Lebendigkeit, Konzentration und bewussten Umgang mit sich selbst. Dies neu ausgelösten Zustände gilt es zu studieren, ohne wieder in das alte Verhaltensmuster zu verfallen.

Die alte Verhaltenstendenz läuft dann ins Leere, ohne die sonst erreichte Befriedigung zu bekommen. So bleibt die Verstärkung aus – das Saatkorn wird nicht weiter gegossen – und die Löschung wird eingeleitet. Gleichzeitig tut sich ein Raum auf, um alternative Verhaltensweisen zu wählen. Nach und nach werden neue, konstruktive Verhaltensweisen aufgebaut.

Jedes Muster, jede Gewohnheit stellt eine Lernmöglichkeit dar und damit ein Instrument auf dem Weg der individuellen Entwicklung. In diesem Lernprozess haben sowohl der Yoga als auch die Psychotherapie das gleiche Ziel: eine Veränderung und Erweiterung der Wahrnehmungs- und somit auch der Handlungsfähigkeit.

Tapasübung zur Vereinfachung des Lebens

Gib irgendeine Verhaltensweise, die dir besonders lieb ist, für einen festgelegten Zeitraum auf, z.B. für einen Tag oder eine Woche. Wähle diese Übung so, dass sie dir leicht fällt. Es kann eine kleine Veränderung sein wie etwa auf eine Tasse Kaffee zu verzichten oder keinen Film im Fernsehen zu sehen.
Du solltest dabei drei Regeln beachten:

  1. Arbeite an dir, ohne jemanden zu verletzen – auch dich selbst nicht.
  2. Bereite niemand anderem Unannehmlichkeiten.
  3. Übe so unauffällig wie möglich. Behalte die Übung für dich, so gut wie zu kannst.

Besonders wirkungsvoll kann es sein, die eigenen Erfahrungen während dieser Übung aufzuschreiben.


Heft 25 – Yoga und Therapie

Im Ayurveda Journal Heft 25 ist der Schwerpunkt auf die heilende Wirkung des Yoga gelegt. Die wohltuende Balance von Körper und Geist, herbeigeführt durch die jahrtausendealten Asanas aus der indischen Tradition.