Das Menschenbild, welches dem Yoga und dem Ayurveda jeweils zugrunde liegt, entspricht sich weitgehend, beide Systeme wurden von der klassischen Samkhya-Philosophie inspiriert. In der Version des Ayurveda wird von drei Aspekten der menschlichen Existenz gesprochen: Dem Körper (Sharira), der Psyche (Sattva) und dem Selbst (Atman). Die beiden ersten können erkranken, wohingegen das Selbst immer gesund ist; denn es ist der Bereich der ewigen Seele, die Vollkommenheit in sich trägt.

Gerade für die Prävention und die Gesundheitsvorsorge ist dies von großer Bedeutung: Wenn jeder Mensch einen Ort der Gesundheit in seinem Inneren auffinden kann, dann gilt es, den Zugang zu dieser Dimension durch geeignete Maßnahmen zu eröffnen, um Gesundheit möglich zu machen.

Auf dieser Basis beruht auch der große Wert der Eigenverantwortlichkeit, der dem Einzelnen sowohl im Yoga als auch im Ayurveda zugemessen wird. Der klassische Text des Yoga, das Yoga-Sutra des Patanjali, formuliert folgendermaßen: „Das Unglück, das noch nicht eingetreten ist, kann vermieden werden.“ (heyam duhkham ana-gatam).

Dem Menschen wird also eine nach vorn gerichtete Geisteshaltung nahe gelegt, die sich nicht in Selbstzerfleischung über die Fehler der Vergangenheit ergeht, sondern sich der Möglichkeiten besinnt, die der jetzige Augenblick bietet. Denn im Jetzt können die Weichen neu gestellt, die Karten neu gemischt werden.

Der Mensch – ein komplexes System

Wenn wir uns bewusst machen, wie sehr bereits auf der körperlichen Ebene alle Funktionen des Organismus miteinander vernetzt sind und in komplexer Wechselwirkung zueinander stehen, dann können wir ein Bild davon erhalten, um wie viel mehr dies für energetische Prozesse oder für den Geist Gültigkeit besitzt.

So ist bekannt, dass Schmerzen im unteren Rücken zum Beispiel durch Probleme im Nacken oder in den Füssen verursacht werden können. Die moderne Medizin hat teilweise Probleme damit, solche Zusammenhänge zu sehen, weil sich die einzelnen Fachgebiete immer mehr auf spezifische Organe und die damit verbundenen Teilaspekte konzentrieren, ohne darauf zu achten, dass es immer der Mensch als Ganzes ist, der eine Krankheit hat.

In der Gesundheitsförderung ist es aber wichtig, den Menschen in allen seinen Aspekten zu betrachten und damit sinnvolle Maßnahmen einzuleiten, die die Gesamtbalance positiv beeinflussen. Yoga und Ayurveda wirken hier hervorragend zusammen. Aber Vorsicht, wer diese Systeme nur als ein neues Regelwerk begreift, dem er sich unterwirft wie einer neuen Diät oder einem neuen Lifestyle-Trend, der geht leicht an dem Wesentlichen vorbei.

Aufgrund der Fülle des Wissens, welches in beiden Systemen über die Jahrhunderte entstanden ist, könnte man sich von morgens früh bis abends spät mit Maßnahmen der gesunden Lebensführung beschäftigen und damit nur einen Bruchteil dessen umsetzen, was alles möglich wäre. Aber es geht nicht darum, nur um unseren eigenen Nabel zu kreisen und vielleicht sogar ängstlich darauf zu achten, dass auch ja alle Regeln befolgt werden.

Vielmehr geht es um die Grundbalance, um zentrale Faktoren unserer Lebensführung, die im Gleichgewicht sein sollten. Hier gilt es, eine geeignete Auswahl zu treffen, die mit der persönlichen Lebenssituation, dem Gesundheitszustand und den Anforderungen von außen im Einklang steht. Ansonsten könnte sogar noch mehr Anspannung entstehen, weil man versucht, immer mehr in den Tag hineinzupacken.

Aufmerksamkeit ist der Schlüssel

Das Grundprinzip, um das richtige Maß (matra) herauszufinden, um das sich so vieles im Ayurveda dreht, ist die Aufmerksamkeit. Zum Beispiel kann sich je nach aktueller Situation das Maß für die richtige Essensmenge sehr schnell verändern. Zu wenig lässt Vata ansteigen und ein entfachtes Verdauungsfeuer ins Leere laufen. Zu viel führt zu einer Dominanz von Kapha und Schwere. Aber kein Ayurveda-Therapeut kann 24 Stunden lang neben uns stehen und uns jeweils die beste Menge verkünden wie einen Wetterbericht.

Im Ayurveda ist insofern genauso Achtsamkeit gefragt wie in den entsprechenden Meditationsformen des Yoga; denn die Achtsamkeit sorgt dafür, dass mehr innerer Selbstbezug entsteht, also ein Gespür dafür, was uns gut tut und was nicht. Daher heißt es auch in einem alten ayurvedischen Sprichwort, dass die Zunge der beste Ayurveda-Arzt sei. Asketisch geprägte Yogarichtungen, die Disziplin und Kontrolle in den Mittelpunkt stellen, sehen die Zunge und mit ihr den Drang nach bestimmten Geschmackserlebnissen als kritisch an. Vielmehr soll der Geist darüber stehen und frei sein und nicht den Sinnesgenüssen folgen.

Dieser Gedanke ist an sich richtig; die Kontrolle ist aber nicht das Ziel der ganzen yogischen Entwicklung, sondern die innere Freiheit, die keine Sinneseinflüsse mehr fürchten muss. Aus ayurvedischer Sicht sollen die körperlichen Bedürfnisse nicht unterdrückt werden. Vielmehr führt z.B. ein frisch zubereitetes Essen, das schön aussieht und gut duftet, zu einer Zufriedenheit der Sinne, einem Gefühl, wirklich satt und zufrieden zu sein. Diese körperliche Basis hilft auch dem Geist, ruhiger zu werden. Wer also eine balancierte ayurvedische Lebensführung mit Yoga kombiniert, kann viel für sein gesundheitliches Gleichgewicht tun.

Wenn Sie jemandem sagen, er bekäme eine Million Euro, wenn er eine Nacht lang nicht an Affen dächte, dann wird die betreffende Person wahrscheinlich aufrecht im Bett sitzen – von einer Horde Affen umgeben. Die Verknüpfung mit der Erwartung, eine große Geldsumme zu erlangen, lässt den Geist aktiv werden. Ebenso beginnen die Menschen während der Diät von Schokolade zu träumen, wenn sie sich diese streng verbieten.

Ayurveda und Yoga glauben an die Kraft der Balance und die Möglichkeit, sich von innen heraus natürlich dem Richtigen zuzuwenden, daher wird die Psyche im Ayurveda „Sattva“ genannt. Sie strebt in ihrem natürlichen Zustand dem wahren Sein entgegen.

Im gestörten Zustand hingegen kommt es zu einem Fehlgehen der Erkenntnis (prajnaparadha), dabei wird das Richtige für falsch und das Falsche für richtig gehalten. Wenn z.B. Kühlung angesagt wäre, strebt man doch weiter der Erhitzung zu oder umgekehrt, z.B. nach dem Sonnenbaden wird noch etwas Scharfes gegessen.
Das Gefühl für die natürliche Regulation ist verloren gegangen. Bemerken tun wir das in der Regel erst, wenn eine Erkrankung entsteht, die für jeden, dessen Selbstwahrnehmung geschwächt ist, überraschend aus dem heiteren Himmel kommt. Das Entscheidende ist also, dass im Zustand des Ungleichgewichts tatsächlich die richtige Wahrnehmung verloren geht.

Insofern sind viele yogische Übungen – seien es die körperbezogenen Asanas, die Atemübungen oder die Meditation – äußerst hilfreich, weil sie uns mit uns selbst in Kontakt bringen und quasi als Nebeneffekt auch das Gesundheitsbewusstsein erhöhen. Viele Yogapraktizierende berichten von solchen spontanen Effekten und Veränderungen in der Lebensführung, die sanft und ohne Anspannung von innen her entstehen.

Umgekehrt kann der Ayurveda durch seine Rasayanas die Lebensenergie und die Balance von der körperlichen Ebene her stärken und damit ein grundlegendes Fundament für die yogischen Bemühungen schaffen. Die Ausgewogenheit der körperlichen Funktionen ist ein nicht unwesentlicher Faktor für den Zustand des Geistes. Die Erfahrung innerer Stille ist schwerer möglich, wenn es z.B. im Verdauungssystem rumort, wenn Schmerzen da sind oder andere körperliche Faktoren Einfluß nehmen. Auch wenn die Stille letztlich unabhängig ist, sollte die körperliche Grundlage nicht vernachlässigt werden.


Heft 25 – Yoga und Therapie

Im Ayurveda Journal Heft 25 ist der Schwerpunkt auf die heilende Wirkung des Yoga gelegt. Die wohltuende Balance von Körper und Geist, herbeigeführt durch die jahrtausendealten Asanas aus der indischen Tradition.