Wie die ayurvedische Lehre hilft, unseren Blick auf das Leben zu ändern – und wir damit krankmachenden Stress vermeiden können.
Kürzlich beschrieb mir ein Manager seine Lebenssituation so: „Ich habe einen super Job, eine tolle Familie, ein schönes Haus mit einem traumhaften Garten, ich verdiene viel Geld – und trotzdem macht mir nichts mehr Freude. Ich bin einfach fertig.“
Wer so spricht, steckt in oder kurz vor jener fundamentalen Krise, die seit einigen Jahren als “Burnout” bekannt und berüchtigt geworden ist: Müdigkeit, Antriebsarmut, Lustlosigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisschwäche, Angstzustände und depressive Verstimmung – all das sind klare Signale dieser krankhaften Erschöpfung. Aber auch körperliche Störungen wie Spannungskopfschmerzen, Rückenprobleme, Reizmagen oder Bluthochdruck können auf eine übermäßige Belastung hinweisen.
Dabei ist Burnout beileibe keine Managerkrankheit mehr: Laut einer Umfrage des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts leiden Mitarbeiter aller Arbeitsebenen in 84 Prozent aller Unternehmen unter hohem Zeit- und Leistungsdruck. Nach Schätzungen der Krankenkassen fühlen sich fast 30 Prozent der Deutschen ausgebrannt. Die Zahl der Fehlzeiten von Arbeitnehmern mit psychischen Erkrankungen ist seit 1994 um 88 Prozent gestiegen, im Jahr 2010 waren es nach Auskunft des Bundesarbeitsministeriums 53,5 Millionen Krankheitstage. Vor wenigen Jahren standen noch Rückenschmerzen an vorderster Stelle bei Krankmeldungen. Inzwischen kosten Burnout Fälle die deutsche Wirtschaft jährlich 43 Milliarden Euro, psychische Erkrankungen sind schon jetzt die häufigste Ursache von Frühverrentungen.
Woran liegt es, dass diese Krankheit unsere Gesellschaft so im Griff hat? Der vielleicht entscheidende Grund dafür ist sicherlich einer der größten Energieräuber unserer heutigen Zeit: Stress. Der Begriff Stress leitet sich von dem lateinischen Wort „strictus“ – angezogen, stramm, gespannt ab. Im Englischen wurzelt die Bezeichnung in der Werkstoffkunde und bezeichnet den Zug oder Druck auf Material. 1936 übernahm der kanadische Mediziner Prof. Dr. Hans Selye – der Pionier der modernen Stressforschung – dieses Wort für seine Arbeiten, und seit den 1950er Jahren wird es im Sinne eines psychologischen Phänomens verwendet. Von Selye stammt die Definition:
„Stress ist die unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Aufgabe, die an ihn gestellt wird.“
Was genau ist der Stress, der zum Burnout führt?
Stark verallgemeinert könnte man behaupten: Viele Menschen assoziieren mit Stress negative und belastende Umstände, in denen Zeit- und Leistungsdruck eine dominante Rolle spielt. Doch jeder Mensch hat seine ganz individuelle Stresswahrnehmung, und die ist abhängig von seiner augenblicklichen Befindlichkeit und inneren Balance. Was Sie heute möglicherweise fürchterlich stresst, bewältigen Sie nach einem erholsamen Urlaub völlig gelassen und souverän. Was Ihre Kollegin auf die Palme bringt, lässt Sie völlig kalt. Wenn plötzlich ein Tiger vor Ihnen stünde, bekämen Sie Todesangst. Ein Tigerdompteur würde solch eine Situation vielleicht als einen anregenden Nervenkitzel empfinden. Auch die Reaktionen auf Stress gestalten sich bei jedem anders. Der eine wird nervös und hektisch, der andere aggressiv, der dritte ganz introvertiert. Stress und seine Auswirkungen auf uns sind also immer subjektiv!
Ursprünglich hat die Evolution die Stressreaktion als biologische Überlebensstrategie entworfen. Denn für unsere Vorfahren erwies sich der „Kampf- oder Fluchtreflex“ als existenziell notwendig, in der Auseinandersetzung mit wilden Tieren oder menschlichen Feinden. Heute setzen meist psychosoziale Konflikte den Stressreflex in Gang. Nur: In einem Verkehrsstau kann man nicht kämpfen oder weglaufen, in einem dicht gedrängten Terminplan lässt sich kein Feind stellen, im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf kann man Mitbewerber nicht mit dem Faustrecht ausschalten. Wenn sich der „gesunde“ Stressreflex nicht mehr ausleben kann, sucht er sich „ungesunde“ Wege. Anders gesagt: Durch die dramatischen „zivilisierten“ Veränderungen der Lebensbedingungen mutierte die Stressreaktion selbst zur Gefahr. Laut International Labour Organisation gilt Stress in den westlichen Industrieländern mittlerweile als direkte oder indirekte Ursache von 70 Prozent aller Krankheiten.
Zudem kommt, dass sich unser Leben mit der technischen und vor allem digitalen Revolution in den vergangenen 20 Jahren radikaler verändert als in mehreren hunderten Jahren zuvor. Ein Vergleich illustriert das eindrucksvoll: Um die Menge an Informationen zu verarbeiten, die heute jeden Tag in unser Gehirn strömt, hatte Goethe etwa sieben Jahre Zeit! Vor 50 Jahren besaßen nur wenige Menschen ein Telefon. Heute steckt bei fast allen ein Smartphone in der Tasche. Permanent socializen wir via Internet, E-Mail, Facebook oder Twitter – wir sind immer erreichbar. Und die Kommunikation wird zukünftig noch mehr Fahrt aufnehmen. Doch gelingt es auch unserem Gehirn und unserem Körper, so wie sie konzipiert sind, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten? Nein, jedenfalls nicht auf Dauer. Verbraucht der menschliche Organismus in diesem Prozess nicht viel zu schnell seine energetischen Ressourcen? Ja, natürlich.
Das menschliche Stresssystem kann als klassisches Beispiel dafür dienen, was passiert, wenn gesellschaftliche und technische Entwicklungen auf der einen und die reine biologische Evolution auf der anderen Seite derart auseinander driften. Bei vielen endet dieser Prozess in einem Burnout.
Was kann man tun, um sich vor einem Burnout zu schützen?
Auch da hilft es, sich den Ursprüngen zu nähern. Bei den Inkas bedeutete das Wort für das, was wir heute „Burnout“ nennen, einen Zustand „wenn man seine Seele verloren hat“. Im Maharishi Ayurveda nennt man diese Krise „Pragya Aparadh“. Dieser Sanskrit-Begriff heißt „Irrtum des Intellekts“ und gilt als Urgrund aller Krankheit. In den Jahrtausende alten, ayurvedischen Texten steht dazu geschrieben: „Wenn man das Ewige als vergänglich sieht und das Vergängliche als ewig, wenn man das Schädliche als nützlich erkennt und das Nützliche als schädlich, dann ist der Intellekt verwirrt. Der gesunde Intellekt begreift die Dinge, wie sie sind.“
Dem Intellekt wird also eine elementare Bedeutung für die Gesundheit zugebilligt. Aber was genau ist denn dabei eigentlich seine Funktion? Nun, der Verstand differenziert, analysiert und entscheidet. Zum Beispiel was und wann wir essen oder trinken, wie lange wir arbeiten und schlafen, wie oft wir uns bewegen, wie viel Zeit wir mit unserer Familie und unseren Freunden verbringen – alles eine Frage der Entscheidung. Mit den richtigen Entschlüssen nützt der Verstand unserer Gesundheit, mit den falschen schadet er ihr.
Verirrung des Verstandes
Oft irrt er aus Gewohnheit. Weil unsere Prägungen ihn täuschen, die Gepflogenheiten unseres Lebens ihn fehlleiten. Der Intellekt trifft seine Entscheidungen nämlich immer aus seiner Sicht der Wirklichkeit – einer Wirklichkeit, die er gelernt hat. Unsere Urteile sind also Ausdruck unserer Weltsicht. Ist sie eingeschränkt oder gehetzt, treffen wir falsche Entschlüsse. Ist sie ganzheitlich und ruhig, sind es die richtigen.
Nach ayurvedischem Verständnis ist ein Mensch gesund, der in seinem Selbst ruht und dessen Doshas in Balance schwingen. Dann macht er spontan das, was im Ayurveda Satmya heisst, also das, was für ihn verträglich und nützlich ist. Satmya bedeutet vom Wortursprung her „meine Wahrheit“. Wer bei sich ist, in seiner Mitte, der ist im Gleichgewicht und handelt entsprechend seiner eigenen Wahrheit. Zu sich selbst zurückzukehren, in sein inneres Ordnungssystem, seine Doshas zu harmonisieren, bedeutet darum auch zu lernen, sich zu spüren. Und genau darin besteht die Essenz eines ayurvedischen Stress- und Energiemanagements.
Heft 40 – Ayurvedische Teekultur
Das Ayurveda Journal beschäftigt sich als Titelthema in Heft 40 mit der ayurvedischen Teekultur.