Wir biegen um die Ecke und stehen vor ihm, lebensgroß, mit langem weissen Bart, bekleidet mit einem roten Mantel, umkränzt von Blumengirlanden – Sushruta, neben Caraka und Vagbhata einer der drei großen Klassiker der Ayurvedamedizin, täuschend realistisch, als käme er gerade aus der Vorlesung. Diese Skulptur kann verdeutlichen, welch enorme Wertschätzung diesem großen Arzt auch heute noch in der Stadt seines Wirkens entgegengebracht wird – in Varanasi am Ganges, dem ehemaligen Benares, heiligste Stadt des Hinduismus.

Universitärer Ayurveda

Wir, 7 Ayurvedamedizinerinnen und -mediziner, verbrachten einen Studienaufenthalt an der Ayurveda-Frauenklinik der Banaras-Hindu-University, der größten Hochschule Asiens. Organisiert von der Europäischen Akademie für Ayurveda in Birstein konnten wir auf Einladung von Frau Professor Dr. Manjari Dwivedi Tage des intensiven Studiums und unvergesslicher Impressionen erleben.

 Für uns alle wurde deutlich, welch ausgeprägten und fruchtbaren Bezug Ayurveda zur modernen universitären Medizin hat. Hier wird Ayurveda nicht in der Nische eines abgeschiedenen Ashrams oder einer exklusiven Privatklinik betrieben, sondern eingebettet in den Betriebsablauf eines großen Klinikums der Schwerpunkt-versorgung. Gemäß den Lehren Sushrutas, der sich bevorzugt mit Chirurgie und der Marmalehre beschäftigt hatte, stand auch für uns die Auseinandersetzung mit der operativen Medizin und auch der Frauenheilkunde im Vordergrund.

Ein straffes Tagesprogramm von 9 Uhr bis 18 Uhr brachte uns aktuelle Einsatzmöglichkeiten von Ayurveda-Strategien in der modernen operativen Medizin nahe: Professor S.K.Mishra erläuterte die Patientenorientiertheit des Ayurveda im Gegensatz zur Krankheitszentrierung der Schulmedizin.

Jeden Nachmittag verbrachten wir im Labor der Fakultät für Rasashastra unter Professor N. Kumar, der uns praktisch an die Herstellung moderner Ayurvedapräparate heranführte. Stundenlang „kochten“ wir an den Mörsern, Öfen, Töpfen und Flaschen, um hautnah den Entstehungsprozess der wichtigsten ayurvedischen Präparationen verfolgen zu können: vasa-avaleha, arka-lavana, bilva-putapaka-svarasa, palasa-kshara, vatsanabha-shodana, um nur einige zu nennen.

Dozent Dr. K. K. Pandey, zuständig für die ayurvedische Anästhesie und operative Intensivmedizin, verdeutlichte uns plastisch den Einsatz ursprünglich ayurvedisch-pflanzlicher Drogen in der modernen Intensivmedizin: Kokain, Opium, Curare, Atropin, Ephedrin. Vor der Operation werden die Patientinnen üblicherweise mit Bastis zur Vatareduktion versorgt, brahmi fungiert als Tranquilizer, ashvagandha zur Immunstimulation, dashamula zur Dämpfung des Parasympathicus. Dies soll nur als ein kleines Beispiel für die Einsatzmöglichkeiten von ayurvedischen Strategien in der modernen operativen Medizin dienen.

Viele weitere hoch interessante Bereiche wie Blutegeltherapie, Fisteltherapie mit ksharsutra, Wundmanagement und Schmerzbekämpfung wurden uns täglich in Theorie, interaktiven Seminaren und in der Praxis am Krankenbett aufgezeigt.

Zum Ende unseres Aufenthaltes vereinbarten wir den Start von gemeinsamen wissenschaftlichen Projekten, länder-übergreifend zwischen Indien und Deutschland. Zurück in Mitteleuropa ist es bereits gelungen, eine renommierte deutsche Universität für diese Studien zu gewinnen. So wird Ayurveda auch bei uns im deutschsprachigen Raum vermehrt wissenschaftliche Akzeptanz gewinnen und ist aus der Gesundheitslandschaft nicht mehr wegzudenken sein.

Faszination Varanasi

Was wären jedoch die Tage der intensiven Auseinandersetzung mit der Heilkunde des Ayurveda ohne das Einbezogensein in das spirituelle Flechtwerk dieser geheimnisvollen und heiligen Stadt an den Ufern des Ganges – mit ihren unzähligen Tempeln, den kilometerlangen Ghats am Fluss entlang, den Hunderten von Pilgern, Priestern und Heiligen, welche in ihren vibrierenden Farben und ihrer jenseitigen Geistigkeit so sehr das Stadtbild prägen. Dieser Eindruck eines Gesamtkunstwerkes kann nicht einmal durch das permanente Chaos, die infernalische Lautstärke des Verkehrs, den Zivilisationsmüll und die Luftverschmutzung geschmälert werden.

Zur Stunde des Sonnenunterganges sitzen wir auf den weichen Matten an Deck eines hölzernen Gangesschiffes, vor uns am Ufer die zahllosen Öllichter am Dasaswamedh-Ghat; Weihrauch zieht über den Fluss, Trommeln begleiten die Zeremonie zu Ehren der Flussgöttin Ganga und verklingen über den weiten Sandbänken – unvergessliches Schauspiel einer magischen Stadt, die dem Jenseits in dieser Abendstunde so nahe steht wie nur wenige Plätze auf dieser Erde. Benares verändert das Empfinden und die Sensibilität seiner Besucher, weist ihnen Wege zum Wesentlichen. Benares ist für uns ein prägendes Erlebnis – fachlich, spirituell und auch menschlich.


Heft 22 – Ayurveda in Indien

Ayurveda erleben – in Indien dem Ayurveda näher kommen! Das Ayurveda Journal 22 inspiriert zu ayurvedischen Kuren, spirituellen Erlebnissen oder sogar einem Studium des Ayurveda in der Nähe des Äquators.