Teil 1 – Pulsdiagnose

Was unterscheidet eine ganzheitliche, auf klassisch-ayurvedischen Kriterien basierende professionelle Phytotherapie von symptombezogener, laienhafter Anwendung einzelner Pflanzen und Rezepturen? Die Antwort lautet: Das diagnostische Verständnis des Therapeuten.

Gesundheit und Krankheit folgen konkret definierten Gesetzmäßigkeiten. Der Zustand eines Patienten kann nur dann erfolgreich therapiert werden, wenn eine Differenzialdiagnose unter Berücksichtigung von Ätiologie (Ursachen), Prodromalsymptomen (Vorzeichen), klinischem Bild, Linderungsmethoden und der Pathogenese (Krankheitsentwicklung) erfolgt ist.

Ganzheitlich ist das Verständnis der Interaktion von Geist, Sinnen und Körper im konkreten Fall. Kausal therapieren heißt in den krankhaften Entwicklungsprozess einer Beschwerde einzu-greifen unter Nutzung aller ayurvedischen Therapiesäulen.

Untersuchung des Pulses

Kaum ein Untersuchungsverfahren wird als so faszinierend und außergewöhnlich erlebt wie das Fühlen des Pulses. Nadi Pariksha wurde erst im ayurvedischen Lehrwerk „Yogaratnakara“ Ende des 17. Jahrhunderts systematisch in die Diagnostik integriert, im Klassiker „Sharngadhara Samhita“ wurden zuvor bereits unterschiedliche Qualitäten des Pulses beschrieben.

Der Puls wird beidseitig am Handgelenk gefühlt, ausschlaggebend bei Frauen ist die linke und bei Männern die rechte Seite. Palpiert wird von der Außenseite (lateral) mit der jeweils entgegen gesetzten Hand des Therapeuten. Legen Sie drei Fingerkuppen von Zeige-, Mittel- und Ringfinger sanft auf die Hautoberfläche – der Zeigefinger liegt handgelenkwärts in der Vertiefung oberhalb des Knöchels (Processus styloideus radii), die beiden anderen Finger entspannt daneben. Fühlen Sie den Puls nacheinander in drei Tiefen und nehmen Sie den Ausschlag unter den einzelnen Fingern getrennt wahr. Konzentrieren Sie sich bei der Palpation auf jeweils eine der drei Ebenen. Der Patient sollte möglichst nüchtern sein (größtmöglicher Abstand zur letzten Mahlzeit), keinen Alkohol oder Koffeingetränke konsumiert haben und in entspannter Atmosphäre untersucht werden.

Pulse zeigen vor allem subtile, aktuelle, kurzzeitige Zustände und Befindlichkeiten an und können diagnostisch als wichtiges Kriterium zu Behandlungsverläufen herangezogen werden. In Kombination mit weiteren Körperuntersuchungen wie Zunge, Antlitz und Abdomen sowie einer ausführlichen Anamnese wird Ihre Diagnostik sowohl klassisch-ayurvedischen wie auch modern europäischen Ansprüchen gerecht. Ergänzend können laboratorische und bildgebende Verfahren gemäß Bedarf zum Einsatz kommen.

Ich unterscheide drei Ebenen in der Pulsinterpretation

  • Basisanalyse: Bewertung von Rate, Rhythmus, Amplitude und Volumen
  • Topographische Ebene: Vertikale oberflächlich-mittig-tief und Horizontale proximal-mittig-distal
  • Ebene der Eigenschaften: schwer-leicht, träge-spitz, kalt-heiß, ölig-trocken, glatt-rauh, dickflüssig-wässrig, weich-hart, statisch-beweglich, grob-subtil, schleimig-klar

Vom Pulsbefund zu den passenden Pflanzen

Der Vata-dominierte Puls ist beschleunigt, neigt zu Unregelmäßigkeit, einer wechselnden Amplitude und einem niedrigen Volumen. Er zeigt sich topographisch stärker distal und oberflächlich. Seine Eigenschaften sind leicht, kalt, trocken, rau, beweglich und subtil.

Geeignete Pflanzen bei einem derartigen Pulsbefund sollten daher folgende Qualitäten aufweisen

  • Geschmack (Rasa): süß, salzig, sauer; zum Wärmen ist zudem etwas scharf geeignet
  • Eigenschaften (Guna): schwer, warm, feucht, glatt, statisch und grob
  • Postdigestiveffekt (Vipaka): süß
  • Potenz (Virya): schwer, warm und feucht

Rezepturenbeispiel für einen Aufguss (Phanta)

  • Leitdrogen: Melissae folium (Melissenblätter), Althaeae radix (Eibischwurzel)
  • Unterstützungsdrogen: Verbenae herba (Eisenkraut), Hyperici herba (Johanniskraut)
  • Schmuckdroge: Tiliae flos. (Lindenblüten)
  • Einnahmeoption: 3x täglich je 3-4 Gramm der Pflanzenmischung mit 150ml siedendem Wasser übergießen und tiefwarm getrennt von den Mahlzeiten mit einem Schuss Sesamöl gemischt trinken

Der Pitta-dominierte Puls ist durchschnittlich schnell, relativ regelmäßig, hat eine starke Amplitude und ein mittelstarkes Volumen. Er zeigt sich topographisch stärker mittig, sowohl vertikal als auch horizontal. Seine Eigenschaften sind spitz, heiß, leicht und etwas wässrig.

Geeignete Pflanzen bei einem derartigen Pulsbefund sollten daher folgende Qualitäten aufweisen

  • Geschmack (Rasa): bitter, süß und herb
  • Eigenschaften (Guna): kalt, schwer, verlangsamend
  • Postdigestiveffekt (Vipaka): süß
  • Potenz (Virya): kalt

Rezepturenbeispiel für eine Abkochung (Kvatha)

  • Leitdrogen: Taraxaci folium (Löwenzahnblätter), Viola tricoloris herba (Stiefmütterchenkraut)
  • Unterstützungsdrogen: Millefolii herba (Schafgarbenkraut), Cardui mariae fructus (Mariendistelfrüchte)
  • Schmuckdroge: Menthae piperitae folium (Pfefferminzblätter)
  • Einnahmeoption: 2x täglich je 50ml einer Abkochung (aus 400ml Wasser mit 25g der Pflanzenmischung auf 100ml reduziert) getrennt der Mahlzeiten, ggf. mit einer Löffelspitze Sharkara (Produkt der Amla Natur GmbH)-Rohrzucker gemischt trinken

Der Kapha-dominierte Puls ist verlangsamt, absolut regelmäßig, hat eine geringe Amplitude und ein starkes Volumen. Er zeigt sich topographisch stärker proximal und tiefliegend. Seine Eigenschaften sind schwer, träge, kalt, ölig, glatt, dickflüssig, weich, statisch, grob und schleimig.

Geeignete Pflanzen bei einem derartigen Pulsbefund sollten daher folgende Qualitäten aufweisen

  • Geschmack (Rasa): scharf und bitter
  • Eigenschaften (Guna): leicht, spitz, heiß, trocken, rauh, dünnflüssig, hart, beweglich, subtil und klar
  • Postdigestiveffekt (Vipaka): scharf
  • Potenz (Virya): heiß, trocken und beweglich

Rezepturenbeispiel für eine Abkochung (Kvatha)

  • Leitdrogen: Rosmarini folium (Rosmarinblätter), Betulae folium (Birkenblätter)
  • Unterstützungsdrogen: Centaurii herba (Tausendgüldenkraut), Juniperi fructus (Wacholderfrüchte)
  • Schmuckdroge: Sambuci flos. (Holunderblüten)
  • Einnahmeoption: 2x täglich je 50ml einer Abkochung (aus 400ml Wasser mit 25g der Pflanzenmischung auf 100ml reduziert) getrennt der Mahlzeiten, ggf. mit einer Löffelspitze Thymianhonig gemischt trinken

Der Agni-geschwächte Puls mit Ama-Folge ist dumpf und zumeist hart gespannt. Er kann sich topographisch überall zeigen. Seine Eigenschaften sind schwer, träge, kalt, ölig, dickflüssig, hart, statisch, grob und schleimig-klebrig.

Geeignete Pflanzen bei einem derartigen Pulsbefund sollten daher folgende Qualitäten aufweisen

  • Geschmack (Rasa): scharf und bitter
  • Eigenschaften (Guna): leicht, spitz, heiß, trocken, rauh, beweglich, subtil und klar
  • Postdigestiveffekt (Vipaka): scharf
  • Potenz (Virya): heiß, trocken und rauh

Rezepturenbeispiel für eine Abkochung (Kvatha)

  • Leitdrogen: Cynarae folium (Artischockenblätter), Urticae folium (Brennesselblätter)
  • Unterstützungsdrogen: Angelicae radix (Engelwurz), Gentianae radix (Enzianwurzel)
  • Schmuckdroge: Eucalypti folium (Eucalyptusblätter)
  • Einnahmeoption: 3x täglich je 50ml einer Abkochung (aus 600ml Wasser mit 30g der Pflanzenmischung auf 150ml reduziert) getrennt der Mahlzeiten pur trinken

Die Kunst der Rezeptierung

Natürlich kann der vorliegende Artikel das weite Feld einer Rezeptierung anhand differenzierter Diagnostik nur am Rande streifen. Viele weitere Faktoren wie der Zustand von Geweben, Nebengeweben, Zirkulationsbahnen, Abfallstoffen und Funktionsstörungen müssen ebenso berücksichtigt werden wie der psychische Zustand des Patienten und das gemeinsame Therapieziel. Lassen Sie sich als Therapeut nicht nur von Fertigarzneien und deren Anwendung gemäß pauschalen Empfehlungen leiten – die hohe Kunst der Phytotherapie liegt im individuell erstellten Rezept!


Heft 22 – Ayurveda in Indien

Ayurveda erleben – in Indien dem Ayurveda näher kommen! Das Ayurveda Journal 22 inspiriert zu ayurvedischen Kuren, spirituellen Erlebnissen oder sogar einem Studium des Ayurveda in der Nähe des Äquators.