Ich hatte keine Idee, was mich erwartet. Sicherlich hatte ich schon vieles über Indien gelesen und gehört, darunter auch Dinge, die selbst mich als weit gereisten Globetrotter zurückschrecken ließen. Und doch war da immer dieses Glitzern in den Augen derjenigen, die ihre Berichte mit mir teilten. Jetzt kann ich sie verstehen – beide Seiten. Wo immer Ihr schon in Asien gewesen seid, Indien ist anders.
Indien ist voll, Indien ist laut, es ist intensiv in seinen Farben wie in seinen Gerüchen. Indien ist scharf, Indien ist riesig, Kräfte zehrend und kraftvoll zugleich. Einige Wochen sind wir durch das Land gereist, eingetaucht in eine Welt voller Menschen, waren auf Straßen unterwegs, die vermeintlich heilige Kühe zu ihrem Lebensmittelpunkt auserkoren hatten, haben vom indischen Subkontinent gekostet.
Und nun habe ich mich in die Hände Vishnus begeben. Vishnu ist über mir. Heiße Flüssigkeit tropft auf meine Haut, während meine Gedanken langsam schwinden und über den Fluss übersetzen. Nur ein Steinwurf von hier liegt Old Goa. Die Portugiesen waren es, die sich 1510 diesen traumhaften Flecken Erde aneigneten, um den katholischen Glauben zu bringen und um einen Handelsstützpunkt dort aufzubauen, wo der Pfeffer wächst.
500 Jahre später ist das Erbe der Portugiesen immer noch sichtbar. Hier, in Goa, ist rund ein Viertel der Bevölkerung katholisch, ragen Kirchen, Klöster, Kathedrale und Basilika in den Tropenhimmel, weshalb die UNESCO wiederum das Prädikat „Weltkulturerbe“ verliehen hat. So ist Old Goa heute nicht nur eine Ziel für Althippies, Backpacker, Touristen und indische Familien, auch die Missionarinnen der Nächstenliebe, der von Mutter Teresa gegründete Orden, war gestern in der Kathedrale der ehemaligen Hauptstadt Portugiesisch-Indiens zu Gast.
Heute habe ich mich wieder in die Flussmitte zurückgezogen. Mit konzentrierten Bewegungen wird das heiße Öl auf meinem Rücken verteilt, mit kräftigen Händen wird es einmassiert. Mister Vishnu ist erst vor einigen Wochen aus Kerala gekommen und hat seine Arbeit als Masseur im Devaaya Ayurveda & Nature Cure Centre aufgenommen. Im südlicheren Bundesstaat Kerala arbeitet auch sein Vater als Ayurveda-Masseur. Für Mister Vishnu ist es ehrenvolle Aufgabe und Leidenschaft zugleich, das Jahrtausende alte Wissen seiner Kultur und die Tradition seiner Familie weiter zu tragen. Er ist sympathisch aber zurückhaltend, doch seine Hände sind so kraftvoll wie es die Namensverwandtschaft zu dem bedeutenden hinduistischen Gott der Erhaltung erwarten lässt.
Ich drehe den Kopf zur Seite. In einer Schale aus frisch gepflückten Blumen brennt eine Kerze vor dem groß-formatigen Gemälde Dhanvantaris. Die hinduistische Götterriege ist reichhaltig besetzt, abgesehen von auffälligen Figuren wie dem Elefantengott Ganesha fällt es mir jedoch schwer, die Gottheiten und ihre Aufgaben auseinander zu halten. Dhanvantari allerdings ist der Gott der Heilung und insofern fällt auch Ayurveda in sein Ressort. Ein großes Erbe, denn Ayurveda ist eine 5.000 Jahre alte Lehre, die weit über eine medizinische Heilkunst hinausgeht.
Während bei uns Präventivmedizin gerade erst um ihre Bedeutung kämpft, weiß man in Indien seit Jahrtausenden, dass Ernährung, Bewegung und Heilung Hand in Hand gehen. Zu den Händen Vishnus haben sich mittlerweile die Prittipals gesellt. Vier Hände kreisen über meinen Körper, streichen rhythmisch über meinen Rücken. Nur mit den Augen verständigen sich die beiden Masseure, so dass ihre Hände abgestimmt und synchron arbeiten und doch der Raum nur vom Duft des Öls und den Melodien der Mantren angefüllt ist.
Dies ist eine der zahlreichen Synchronmassagen, die ich hier im Rahmen einer Reinigungskur genieße. Sie sind Teil eines Programms, das individuell auf mich, meine Doshas und meine körperliche Situation abgestimmt wurde und das meinen Tag mit Anwendungen, Massagen, Speisen, Yoga und Meditation ausfüllt.
Noch bevor ich hier ankam, hätte ich nicht geglaubt, dass dieses Programm mich ausfüllen kann, dass es mich davon abhalten kann, auszubrechen, um Indien weiter zu entdecken. Jetzt sitzen wir mit einem anderen Paar zusammen, unterhalten uns darüber, ob wir uns nächstes Jahr hier wieder sehen wollen oder erst in zwei Jahren. Nicht nur mein Körper ist gereinigt, mein Geist ist im Devaaya zur Ruhe gekommen – zum ersten Mal seit langem.