Transzendieren & Einschließen

Ayurveda und Yoga sind zwei unterschiedliche Wissenschaften. Yogalehrer können davon profitieren, das „Wissen vom Leben“ in Unterricht und eigener Praxis zu integrieren.

Die „Sehnsucht nach Befreiug“, im Sanskrit Mumukshutva genannt, ist eine der Bedingungen für das Verständnis des Yoga in der vedischen Tradition. Manche Yogalehrer nehmen das sehr ernst. Im besten Fall führt das dazu, dass sie leichter mit körperlichen oder emotionalen Schwierigkeiten umgehen können. Schwierig wird es, wenn es zur Verleugnung von physischen und seelischen Bedürfnissen führt.

Im Yoga-System von Patanjali ist Samadhi, die „Selbstverwirklichung“, das höchste Ziel. Die Prakriti – unsere Natur – ist auch hier nur etwas, dass vom göttlichen Kern, dem Purusha, zu unterscheiden ist.

Eine gesunde Basis

Wenn wir uns allein in eine Höhle im Himalaya zurückziehen würden um nichts als die Wonne des Selbst zu erfahren, wäre der Yogaweg dafür völlig ausreichend. Um mit den Anforderungen umzugehen, die das zwischenmenschliche Leben an uns stellt, hilft es jedoch sich auch um seine menschliche Natur zu kümmern. Der Ayurveda stelle hier eine reiche Schatztruhe bereit. Die Energiezentren unserer Wurzeln und unsere Gefühle bis hin zu unserem Selbstwert und unserer Fähigkeit zur Hingabe (der Yogi nennt diese: Manipura, Svadhisthana, Manipura und Anahata Chakra) können wir mit diesem Wissen nähren. Schauen wir uns nur die Wurzeln an: Der Arbeitsalltag eines Yogalehrers wird in vielen Fällen besonders ab dem späten Nachmittag recht fordernd, wenn die Teilnehmer für die Abendkurse ankommen. Dann geht es in vielen Studios bis in die späten Stunden mit Unterricht weiter. Manchmal geht der letzte Gast erst nach zehn Uhr in der Nacht. Zu dieser Zeit würde Dinacharya – die ayurvedische Tagesroutine uns schon raten, im Bett zu sein. Denn dann beginnt wieder die Pitta-Zeit, und kühlender Schlaf wäre das Beste für unser System. Wenn wir berufsbedingt länger aktiv sind müssen wir danach also besonders gut für unser erhöhtes Pitta sorgen. Sonst sind zu anderen Zeiten Streits aufgrund von Nichtigkeiten vorprogrammiert. Dann fragt sich der Yogalehrer, warum er trotz intensiver Praxis plötzlich so leicht reizbar ist.

Starke Stützen statt hilflosen Helfern

Yoga zu unterrichten ist eine wunderbare Aufgabe, aus der einem viel Kraft zufließen kann, die aber auch eigene Stärke voraussetzt, damit man authentisch lehren kann. „Keep the instrument healthy“ riet Swami Sivananda seinen Schülern. Man kann nicht langfristig für andere sorgen, wenn es einem selbst nicht gut geht. Ein Yogalehrer wird davon profitieren, zu gegebener Zeit mit seiner eigenen Konstitution und seinem aktuellen Zustand zu beschäftigen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sich massieren zu lassen, bevor man anfängt, sich vor lauter Geben ausgebrannt zu fühlen.

Halbwissen vermeiden

Eine Beschäftigung mit Ayurveda wird umso hilfreicher, wenn man stets einen Anfängergeist behält, und sich doch stetig weiter „bildet“. Ein paar Daten über die Gunas zu kennen ist in der Regel nicht genug. Es ist mittlerweile en vogue, in der Informationsgesellschaft bei allen Menschen Vata-Störungen zu diagnostizieren. Manchmal wissen Leute, die von so etwas reden aber nicht einmal den Unterschied zwischen Prakriti und Vikriti. Ein hoher Vata-Anteil in meiner Natur kann etwas sehr schönes und gesundes sein, und ist ebenso wenig negativ wie „viel Kapha“. Durch die Vermischung von „Natur“ und „Störung“ werden viele Qualitäten nicht erkannt, und andererseits Chancen zur Veränderung vertan. Je tiefer unser „Wissen vom Leben“ wird, desto feinfühliger werden wir für unsere eigenen Bedürfnisse – und für das, was auch anderen Menschen gut tut.

Nicht alles ist für jeden gut

Der größte Schatz, den das Ayurveda zu bieten hat, ist die Erkenntnis, dass wir als Menschen unterschiedliche Konstitutionen und damit Bedürfnisse haben. Deshalb gibt es auch nicht eine Yogapraxis, die für alle angemessen ist. Jede Asana hat zunächst in sich eine bestimmte Wirkung auf die Doshas. Wir können etwas verallgemeinernd feststellen, dass Vorwärtsbeugen die Ausatmung forcieren, und dadurch kühlend wirken, also vor allem Kapha erhöhen. Rückbeugen erhitzen und schüren so eher das Pitta-Dosha. Auch hier muss dann aber differenziert werden: in welcher Weise praktiziere ich solche Übungen? Je mehr Anstrengung ich aufwende, desto mehr Feuer entfach ich: je mehr Ruhe ich in die Asana bring , desto besänftigender die Wirkung auf Vata.

Auch bei den Atemübungen lohnt genaues Hinschauen. Ein Vata-Pitta-Mensch tut zu gegebener Zeit gut daran, den Atem einfach fließen zu lassen, statt ihn anzuhalten. Es gibt viel zu beobachten, für die eigene Praxis, und für den Unterricht. Wenn man so in Verbindung mit seiner Natur lebt, dann ist das „Göttliche“ wonach der Yogi strebt, gar nicht mehr so weit entfernt.


Heft 33 – Ayurveda als Beruf

Der Ayurveda als Beruf – Therapeuten und Ärzte berichten vom Berufsalltag. Eine Entscheidung für den ayurvedischen Lifestyle.