© Kai Peter Hitzer / Human Posture

Der Legende nach machte sich um das 5. Jdh. n. Chr. ein Prinz aus dem heutigen Kerala auf den beschwerlichen Weg über Nordindien nach China. Im Gepäck hatte er die Lehre Buddhas, sowie eine bis dahin unbekannte Kampf- und Heilkunst, die die Grundlage für die Entwicklung des Shaolin Kung-Fus bilden sollte. Der Prinz aber zog weiter und wurde später bekannt als erster Patriarch des Zen Buddhismus. Sein Name war Bodhidharma, und die Kampf- und Heilkunst war Kalaripayattu. 

Was ist Kalari?

Kalaripayattu, ausgesprochen „Kállaripajátt“ und oft schlicht Kalari genannt, ist die uralte Kampf- und Heilkunst Südindiens. Kalari bedeutet Raum oder Arena, Payattu bedeutet Praxis oder (Kampf-) Übung. Doch Kalaripayattu ist mehr als eine simple „Raumübung“. Das Wissen von Marma gilt als Kronjuwel der Kalari-Lehre Südindiens und als ein streng gehütetes Geheimnis innerhalb der wenigen authentischen Übertragungslinien, die noch existieren. Die auf dem Wissen um die vitalen Punkte und Faszien basierende Heilkunst des Kalaripayattu – Kalari Marma Chikitsa – ist dabei untrennbar mit der Kampfkunst, dem Kalaripayattu verbunden. 

Kalari Mura, also der Kalari Weg, ist ein Lebensweg, eine Philosophie, die vergleichbar ist mit dem Bushido des alten Japan und sich doch in einem Punkt fundamental unterscheidet. Während Bushido den Weg der Samurai, also privilegierten adligen Männern, beschreibt, stand Kalari traditionell allen offen. Noch heute werden Kinder im Alter von 6-8 Jahren zu Beginn der Regenzeit in die Praxis initiiert – unabhängig von Geschlecht, Kaste oder Religion. 

Kalari als Beruf, also der Weg der „professionellen“ Krieger:in oder Heiler:in, war nur wenigen vorbehalten. Doch unabhängig vom späteren Beruf oder Lebensweg trainierten sowohl Mädchen als auch Jungen traditionell mindestens bis zum 18 Lebensjahr. Das Resultat ist eine ganzheitliche psychophysische Körper-, Sinnes- und Charakterentwicklung, die jungen Menschen nicht mehr genommen werden kann und ein solides Fundament für ihr weiteres Leben legt.

Der nördliche und südliche Stil

Kalari unterscheidet zwei Hauptstile: Vaddakkan Sampradayam, den nördlichen Stil, und Thekkan Sampradayam, den südlichen Stil. Wenn heute in den Medien von Kalari die Rede ist, geht es meistens um den nördlichen Stil, und auch das Bild- und Video-Material, das wir in den sozialen Medien oder YouTube finden, ist häufig diesem zuzuordnen. 

Die nördliche Form des Kalari ist geprägt von der Kultur der arischen Einwanderer, die mit Veda und Stahl im Gepäck vor ungefähr 3000 Jahren die Bühne Südindiens betraten. Als mythologischer Gründervater gilt heute Parashurama, der Avatar Vishnus, der mit einem gewaltigen Hieb seiner Axt seinerzeit Kerala dem Meer entrissen haben soll, bevor er die ersten 108 Kalari des Nördlichen Stils stiftete. 
Die nördliche Kalari Chikitsa ist eng verwandt mit dem Wissen von Marma, wie es in den klassischen ayurvedischen Texten, Sushruta Samhita und Ashtanga Hrdayam, beschrieben wird. Die Essenz des nördlichen Kalari Marma Chikitsa Systems wird durch die 64 Kula Abhyasa Marma-Punkte verkörpert, die sich von den 108 Punkten, die in den klassischen ayurvedischen Schriften erwähnt werden, unterscheiden. 

Thekkan Sampradayam, der südliche Stil, ist deutlich älter und geht zurück auf die dravidische Urkultur Südindiens, die bereits lange vor dem Eintreffen von Veda und Stahl existierte.

Das südliche Marma System bezeichnet 108 Primärpunkte und, je nach Übertragungslinie, zusätzlich über 330 Sekundärpunkte. Als Stifter dieses Stils gilt der Weise Agastya Muni, der auch als Urheber des sagenumwobenen Munur vermutet wird, das als „Bibel“ des Südlichen Kalari Chikitsa Systems angesehen wird und heute als verschollen gilt. 

Ein Grund für den hohen Differenzierungsgrad des südlichen Marma Systems ist wiederum in der Kampfkunst zu sehen. Der südliche Stil des Kalaripayattu fokussiert sich auf waffenlose Techniken, die deutlich mehr Präzision in der Anwendung erfordern, als der auf Waffen, wie zum Beispiel Speer oder Schwert und Schild, fokussierte nördliche Stil. 

Was das nördliche und das südliche System verbindet, ist ihre ursprüngliche Entwicklung aus der Notwendigkeit der Behandlung für Krieger:innen und Kämpfer:innen auf dem Schlachtfeld oder in der Arena – daher auch der Name Kalari Chikitsa. Das System beschäftigt sich fundamental mit „Erster Hilfe“, basierend auf einem tiefen Wissen um Marma Verletzungen sowie die mit ihnen einher gehenden Symptome. 

Diese geben dem Kalari Marma Chikisa Therapeuten:innen eindeutige Hinweise auf die betroffenen Marma Punkte, was den weiteren Behandlungsweg vorgibt. Dieser kann zum Beispiel Wiederbelebungen oder Gegenanwendungen für die betroffenen Punkte notwendig machen. Das tiefste und geheimste Wissen im südlichen Kalari ist aber das unvergleichbare Verständnis von Prana und ihrer Beziehung zu den Marmas und Nadis des psychophysischen Körpers des Menschen. Diese Wissenschaft ist als „Adangal“ bekannt. Adangal-Techniken umfassen z. B. Gegenanwendungs- und Wiederbelebungstechniken mit Schlägen der flachen Hand, Zug, Schütteldruck, Manipulation sowie die spezialisierte Anwendung von Kräutern und Massage.

Gemeinsamkeiten von Ayurveda und Kalari

Das Wissen um die Doshas Vata, Pitta und Kapha spielt im akuten Stadium einer Kalari Behandlung keinerlei Rolle, sondern ist lediglich in der langfristigen Perspektive von Bedeutung. Eine typische Kalari Behandlung beginnt zwar auch mit dem Auftragen von Öl, sowie wir es aus der ayurvedischen Abhyanga kennen, doch Ziel und Wirkungsweise der Behandlungen unterscheiden sich. 

In der Abhyanga kommen neben ayurvedischem Öl leichterer Druck und Techniken zum Einsatz. Hier geht es u. a. um die Rehydrierung und Nährung der menschlichen Faszien, was die Funktionsfähigkeit von Muskeln und Bändern erhöht und sich positiv auf den generalisierten Bereich des Nadi-Marma Systems auswirkt.

Aus diesem Grund findet man in fast jedem Haushalt in Kerala traditionell einen hölzernen Massagetisch, der für die tägliche Einölung genutzt wurde. Dieser unterschied sich von den heute im Ayurveda genutzten Tischen allerdings grundliegend, da er ohne Tischbeine direkt auf dem Boden platziert wurde.



Diese traditionellen Tische findet man heute in Kerala nur noch selten. Im Kalaripayattu ist die Selbstölung ein integraler Bestandteil der täglichen Praxis, was Funktion und Beweglichkeit der Körpers enorm fördert. Diese tägliche Praxis ist ein elementarer Bestandteil von Dinacharya, der Tagesroutine, die in Kerala stets stark geprägt war von der Philosophie des Kalari Mura. 

Eine Kalari Behandlung arbeitet auch mit Öl, wobei hier zum Teil eigene Kalari Rezepturen zum Einsatz kommen. Die speziellen Massage-Techniken, die angewendet werden, dienen nicht nur dazu, Öl auf den Körper zu bringen. Sie sind präziser, gehen tiefer und wirken direkt auf dedizierte Punkte sowie Muskeln, Sehnen und Knochen anstelle des darüber liegenden Fasziensystems. 

Um die Wirkung von Kalari zu erfahren, erfordert es nicht viel. Die Praxis ist skalierbar und richtet sich nach den Möglichkeiten und Bedürfnissen der Praktizierenden, nicht umgekehrt. Bereits eine kleine, aber regelmäßig ausgeführte Praxis kann zu einer enormen Verbesserung unseres Wohlbefindens und Stärkung unseres psychophysischen Fundamentes für den Alltag führen. 

Kalari Übungs-Set für zu Hause

Das folgende Kalari Übungs-Set nimmt einschließlich der Einölung maximal 30 Minuten in Anspruch. Es besteht aus einfachen und zugleich hocheffektiven Übungen aus der Kalari Tradition, die als Chezho Tozhil (ausgesprochen „Tschérro Toríel“) bekannt ist und übersetzt „kleine Arbeit“ bedeutet. Sollten Öl oder Zeit knapp sein, kann hilfsweise auch ohne Einölung geübt werden.

 

Die Grundprinzipien der Chezho Tozhil Praxis:
1-Gripping: Wache Füße, Zehen und Fußsohle öffnen – „Boden greifen“ 
2-Base- and Spinal Alignment: Ausrichtung der Basis und Wirbelsäule
3-Line of Movement: Verständnis der Bewegungslinie
4-Speed: Dynamische Ausführung – Intensität!
5-Whole Body Consciousness: Ganzkörperbewusstsein
6-Dynamic Release: Die Bewegung „loslassen“
7-Upright Posture: Die Aufrichtung in der Position finden
8-No Interference: Sich nicht einmischen
9-Realize Potential: Das aktuelle Potenzial der Bewegung realisieren 
10-Being: Das Geschehen (Witness: Erleben ohne zu bewerten)

1. Einölen

Schritt 1: Eine kleine Menge Balaguluchyadi Thailam oder Kokusöl in Bioqualität auf den Bereich der Krone der Kopfes mit der flachen Hand sieben Mal vor und zurück einmassieren.

Schritt 2: Ein zur Konstitution und Jahreszeit passendes ayurvedisches Öl (Pinda Thailam und Dhanvantaram Thailam sind für die meisten geeignet, ansonsten Sesamöl in Bioqualität), das behutsam auf Körpertemperatur erwärmt wurde, in langen Strichen auf dem gesamten Körper verteilen. Beginne dabei mit dem Bauchnabel. 

Tipp: Lassen Sie sich gegebenenfalls beim Einölen des Rückens helfen, damit das Öl wirklich den ganzen Körper erreichen kann und beenden Sie die Einölung mit einer kleinen Menge Öl auf dem Damm.

2. Die Übungen

Übung 1: Human Posture

Ausführung: 
– Stehen Sie schulterbreit, die Füße parallel
– Aktivieren Sie Ihre Füße, die Zehen sind aktiv, das Gewicht ist auf die Fläche des gesamten Fußes verteilt. 

Übung 2: Chezho Thozhil I (Transversal Arm Swings)

Vorbereitung:
– Stehen Sie schulterbreit, die Füße parallel
– Strecken Sie beide Arme gerade nach vorne, die Handflächen berühren sich




Ausführung:
– Öffnen Sie die gestreckten Arme vollständig, indem Sie diese waagerecht bzw. in der Transversalebene mit Schwung zurückführen und kommen dabei auf die Fußballen nach oben
– Führen Sie die gestreckten Arme dann umgehend wieder nach vorne, bis die Handflächen sich erneut berühren und kommen dabei wieder von den Fußballen nach unten
– Der Blick bleibt die ganze Übung über nach vorn gerichtet
– Wiederholen Sie die Übung 7 oder 14 mal


Übung 3: Chezho Thozhil II (Sagittal Arm Swings)

Vorbereitung:
– Stehen Sie schulterbreit, die Füße parallel
– Lassen Sie die gestreckten Arme in natürlicher Position seitlich am Körper herunterhängen und drehen die Hände so, dass die Handflächen nach hinten zeigen.



Ausführung: 
– Schwingen Sie die gestreckten Arme vollständig nach oben, indem Sie diese mit Schwung in der Sagittalebene, also vorne, nach oben führen und kommen dabei erneut auf die Fußballen
– Führen Sie die gestreckten Arme dann umgehend wieder nach unten, bis die Arme erneut mit den Handflächen nach hinten in der Ausgangsposition sind
– Der Blick bleibt während der gesamten Übung gerade nach vorne gerichtet
– Wiederholen Sie die Übung 7 oder 14 mal



Übung 4: Chezho Thozhil III (Frontal Arm Swings)

Vorbereitung:
– Stehen Sie schulterbreit, die Füße parallel
– Lassen Sie die gestreckten Arme seitlich am Körper herunterhängen, die Hände sind in der natürlichen Position an der Seite des Oberschenkels

Ausführung: 
– Schwingen Sie die gestreckten Arme vollständig nach oben, indem Sie diese mit Schwung in der Frontalebene, also seitlich, nach oben führen, bis die Hände sich berühren und kommen dabei erneut auf die Fußballen


– Führen Sie die gestreckten Arme dann umgehend wieder nach unten, bis sie sich erneut in natürlicher Position an der Körperseite befinden
– Der Blick folgt während der gesamten Übung den Händen
– Wiederholen Sie die Übung 7 oder 14 mal

Tipp: Wenn wir „den Händen folgen“ sagen, meinen wir die periphere Wahrnehmung zu beiden Seiten. Wir schauen niemals direkt zu einer der beiden Hände.

Übung 5: Chezho Thozhil IV (Spinning Elbows)

Vorbereitung:
– Stehe Schulterbreit, die Füße parallel
– Die Knie sind entspannt
– Platzieren Sie Ihre Arme so, dass die Ellenbogen beide in Schulterhöhe zu Seite zeigen, während die Spitzen der gestreckten Daumen den sogenannten „Lungenpunkt“ unterhalb des Schlüsselbeins sanft berühren
– Das „Auge“ deiner Fäuste zeigt dabei direkt nach vorn


Ausführung:
– Rotieren Sie mit dem Oberkörper, die Ellenbogenspitzen führen die Bewegung 
– Nutzen Sie dabei den maximalen Bewegungsradius, der Blick folgt der Bewegung

– Wiederholen Sie die Übung 7 oder 14 Mal, einmal links und rechts entspricht dabei einer Wiederholung

Tipp: Achten Sie auf eine präzise Haltung der Ellenbogen, Fäuste und Daumenspitzen.

Übung 6: Chezho Thozhil V (Sideline Ellbow Strokes)

Vorbereitung:
– Stehen Sie schulterbreit, die Füße parallel
– Lassen Sie die gestreckten Arme seitlich am Körper herunterhängen und platzieren die Handflächen auf die Seiten der Oberschenkel
– Der Blick ist gerade nach vorn gerichtet

Ausführung: 
– Gleiten Sie mit der Hand so tief wie möglich die Seitenlinie des Oberschenkels herunter und beugen dabei den Oberkörper seitlich soweit wie möglich herunter, ohne die Stellung zu verändern oder die Frontalebene zu verlassen.

– Die Hand auf der anderen Seite gleitet währenddessen so weit wie möglich nach oben (bis kurz vor der Achselhöhle), wobei der Arm gebeugt und der Ellenbogen zur Seite ausgestellt wird
– Erlauben Sie dem Kopf dabei, sich auf der Seite, auf der die Hand nach unten gleitet, zur Seite zu neigen, um die komplette Seitenlinie vom Kopf bis in die Flanke zu öffnen 
– Der Blick bleibt während der ganzen Zeit nach vorn gerichtet
– Wiederholen Sie die Übung 7 oder 14 mal, einmal links und rechts entspricht dabei einer Wiederholung
– Praktizieren Sie mit wachen Händen und einem guten Maß an Reibung und Geschwindigkeit

Übung 7: Chezho Thozhil VI (Dynamic Forward Bents)

Vorbereitung:
– Stehen Sie mit geschlossenen Füssen
– Lassen Sie die gestreckten Arme seitlich am Körper herunterhängen.
– Der Blick ist zu Beginn gerade nach vorn gerichtet

Ausführung: 
– Bringen Sie die gestreckten Hände in der Frontalebene seitlich nach oben, bis sie sich über dem Kopf berühren, der Blick folgt dabei der Bewegung der Hände

– Folgen Sie dann mit dem Oberkörper den gestreckten Armen soweit wie möglich nach unten


– Verharren Sie nicht unten, sondern folgen den gestreckten Armen wieder unmittelbar im Anschluss nach oben, bis diese wieder über dem Kopf ankommen
– Lösen Sie dann den Blick und schauen nach vorn, während Sie die Hände wieder seitlich in die Ausgangsposition an der Seite des Körpers zurückführen

Tipp: Wenn Sie bereits sehr geübt und beweglich bist, können Sie die Dynamik und Wirkung der Übung weiter steigern, indem Sie bei jeder Wiederholung mit den Händen auf den Boden schlagen, was zusätzlich Energie erzeugt und gleichzeitig zu einer reflektorischen Entspannung des Oberkörper führt.