Was wäre ein guter Zeitpunkt für …? Diese Fragen stellen wir uns unzählige Male am Tag, wenn wir versuchen den richtigen Moment für eine bestimmte Aktivität zu finden. In der Musik ist Timing alles – der Künstler schwingt sich in die Rhythmen der anderen Musiker ein und es entsteht ein Gefühl von Leichtigkeit und Flow – es groovt.

Im Ayurveda wird dinacarya (dina – Tag, carya – Routine) im Sinne der Gesundheitsprävention (svasthavritta) oft auf die Morgenroutine reduziert – früh aufstehen, warmes Wasser trinken, Zunge schaben, Nasenspülung, Ölziehen, Ganzkörperölung, Yoga, Meditation usw. Allerdings fehlt vielen Menschen morgens die Zeit, eine derart aufwendige Morgenroutine regelmässig durchzuführen. Zudem sollte man dinacarya auch eher im Sinne einer bewußten Lebensführung durch die 24 Stunden des Tages sehen. Die flexible Anpassung der grundlegenden Prinzipien des Ayurveda an desha (Ort), kala (Zeit) und kula (Gemeinschaft), also an den örtlichen, zeitlichen und sozio-kulturellen Kontext ist von grundlegender Bedeutung. Wir leben im 21. Jahrhundert, in Mitteleuropa und in einem modernen, durch Digitalisierung und Entfremdung von der Natur geprägten sozialen Kontext. Wie können wir also das traditionelle Konzept von dinacarya modern interpretieren, unter Einbeziehen neuer Erkenntnisse aus der Forschung?

Wir können uns in den Groove des Lebens einschwingen oder gegen die natürlichen Rhythmen des Lebens agieren. Der Ayurveda beschreibt die Naturgesetze und Rhythmen des Lebens ganz genau und geht davon aus, dass wir aus der Balance geraten, wenn wir längere Zeit gegen diese natürlichen Rhythmen leben. Leben wir, sofern es in modernen Gesellschaftsformen möglich ist, im Rhythmus und Einklang mit der Natur, so kann sich auch unsere innere Uhr diesen natürlichen Rhythmen anpassen und ausrichten. Die moderne zirkadiane Forschung untersucht chronobiologisch die Tagesrhythmen und deren Einfluss auf den Menschen. Um unsere Gesundheit langfristig zu erhalten sollten wir bestimmte Zeitfenster für Schlaf, Nahrungsaufnahme und Bewegung beachten.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn, Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn“

Rainer Maria Rilke

Die Sonne – der wichtigste Taktgeber unserer inneren Uhren

Das Sonnenlicht ist über die Regulation von Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht unser wichtigster Taktgeber. Über spezielle Rezeptoren in der Netzhaut der Augen nehmen wir Licht auf. Im Hypothalamus befindet sich ein Verbund aus etwa 20.000 Zellen, der als Haupttaktgeber aller inneren Uhren fungiert ­– der suprachiasmatische Nucleus (SCN). Dieser steht in enger Verbindung mit der Zirbeldrüse, welche unter anderem für die Produktion von Melatonin, unserem Schlafhormon, zuständig ist. Die An- oder Abwesenheit von Licht, vor allem Blaulicht, entscheidet also maßgeblich über alle zeitlichen Abläufe im Körper und wird über die Aufnahme von Licht gesteuert.

Surya Namaskar, der Gruß an die Sonne

Wie wichtig in der indischen Kultur die morgendliche Verbindung mit der Sonne ist, zeigen die vielen indischen Morgenrituale. Nicht umsonst begrüßen Yogis die aufgehende Sonne mit Surya Namaskar, und die allmorgendlichen Pujas sind aus der indischen Kultur nicht wegzudenken. Laut Ayurveda sollte man möglichst vor Sonnenaufgang, also in der Vata Zeit, aufstehen um sich die positiven Einflüsse dieser Zeit zu Nutze zu machen. Neben der Abenddämmerung ist der Morgen auch die beste Zeit für die tägliche Meditation.

„Optischer & akustischer Flow“ ­– warum ein Morgenspaziergang so gut tut

Wenn wir uns in der Natur bewegen, befinden wir uns in einem visuellen und auditiven Flow. Bilder und Klänge bewegen sich auf uns zu und wirken beruhigend auf unser Nervensystem. Man hat festgestellt, dass die Vorwärtsbewegung die Aktivität in der Amygdala vermindert, was sich wiederum positiv auf unser Empfinden von Ängsten auswirken kann. Hundebesitzer sind hier klar im Vorteil – der Hund will raus, und wir „flowen“ mit.

Breathwork – etwas Stress schadet nicht

Bärtiger Mann beim entspannten Yoga an einem Bergsee.
a367490 | Ayus Publications e.K.

Durch intensive Atemübungen am Morgen setzen wir unser Nervensystem bewusst unter leichten Stress. Dieser ist jedoch nicht schädlich, sondern hilft uns, unseren Körper über die Produktion von Cortisol und Adrenalin zu aktivieren, gleichzeitig aber mental ruhig und zentriert zu bleiben – die Voraussetzung für fokussiertes und kreatives Arbeiten. Morgendliche Spaziergänge, kombiniert mit tiefer Atmung, wirken demnach mental beruhigend und positiv anregend zugleich.

Deep Work – die beste Zeit für fokussiertes Arbeiten

Man hat herausgefunden, dass die optimale Zeit für fokussiertes und konzentriertes Arbeiten 5-6 Stunden nach dem Zeitraum ist, in dem unser Körper auf einem Temperaturminimum ist. Dies ist etwa 2 Stunden vor dem Aufwachen. Wenn Sie also um 6 Uhr aufstehen, wäre die tiefste Körpertemperatur gegen 4 Uhr und die beste Zeit für fokussiertes Arbeiten zwischen 9 und 10 Uhr. Dies ist also ein optimales Zeitfenster für Arbeiten, die maximale Konzentration und Fokus erfordern.

Tipps für den Morgen:

  • Achten Sie darauf, jeden Morgen möglichst direkt nach Sonnenaufgang 10-20 Minuten lang Tageslicht über die Augen aufzunehmen, um ausreichend Cortisol zu bilden.
  • Üben Sie morgens kräftige Atemübungen und bauen Sie ein dynamisches Bewegungsprogramm mit ein – Surya Namaskar, Vinyasa Yoga oder Jogging.
  • Machen Sie möglichst oft einen Morgenspaziergang und kommen Sie in den „Optical und Acoustic Flow“.
  • Nutzen Sie die optimalen Zeiten für fokussiertes Arbeiten und Lernen (Deep Work).

Die drei Grundrhythmen – Schlaf, Essen, Bewegung

Unser Körper kann nicht alles auf einmal erledigen. Deshalb gibt es Zeitfenster, die für bestimmte Funktionen zuständig sind um biologische Abläufe zu optimieren. Morgenlicht und Dunkelheit am Abend regulieren den Tag-/Nachtrhythmus. Morgens wird Cortisol produziert, um uns mit ausreichend Energie zu versorgen. Wenn es abends dunkel wird, wird in der Zirbeldrüse Melatonin produziert, was uns darin unterstützt, in einen erholsamen Schlaf zu finden.

Nahrungsaufnahme – der Taktgeber unserer Organe

Der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme ist wichtig. Ayurveda empfiehlt regelmäßige Essenszeiten, wobei die Hauptmahlzeit am Mittag sein sollte und die Mahlzeit am Morgen und Abend eher leicht sein sollten. So wie das Tageslicht unsere Gehirnuhr maßgeblich steuert, so reguliert die regelmäßige Aufnahme von Nahrungsmitteln unsere Organ-Uhr. Agni, die Verdauungskraft, wird durch viele Faktoren beeinflusst, wobei die Regelmäßigkeit der Essenzeiten, sowie das Vermeiden von Zwischenmahlzeiten besonderes relevant sind. Chronobiologisch betrachtet ist hier das „Wann“ beim Essen mindestens genauso wichtig wie das „Was“.

„Power Naps“ & Co – etwas Ruhe finden mit Yoga Nidra

Tagesschlaf wird im Ayurveda grundsätzlich nicht empfohlen. Doch eine Ruhephase kann vor allem für Menschen mit einer Vata/Pitta Dominanz in ihrer Prakriti (Grundkonstitution) oder in der Vikriti (Abweichung von der Grundkonstitution) in der zweiten Tageshälfte hilfreich sein, um nicht am Ende des Tages in einen Erschöpfungszustand zu kommen. Dies kann ein kurzer „Power Nap“ von 5-10 Minuten sein oder aber eine kurze Tiefenentspannung mit Yoga Nidra von etwa 10-20 Minuten.

Vata will sich bewegen

Wenn wir nicht schlafen und essen, sollten wir uns bewegen. Im letzten Drittel des Tages dominiert Vata. Unserem natürlichen Drang für Bewegung sollten wir spätestens dann nachgehen. Jede Art von Bewegung, bei der Energie verbraucht wird, kann als körperliche Betätigung angesehen werden – Spaziergänge, Treppensteigen, Gartenarbeit, Haushaltstätigkeiten usw. Eine Mischung aus Ausdauersport, Krafttraining und Yoga sollten idealerweise die normalen Alltagsbewegungen ergänzen.

Tipps für den Nachmittag:

  • Bauen Sie kurze Entspannungsphasen mit Yoga Nidra in Ihren Tag ein, vor allem, wenn Sie noch in den Abend hinein arbeiten müssen.
  • Stellen Sie sich ein abwechslungsreiches Bewegungs- und Sportprogramm zusammen und lassen Sie sich gegebenenfalls von einem Yogalehrer oder einem Fitnesscoach beraten.

Abendzeit ist Kapha Zeit

Zur Ruhe kommen, abschalten und den Tag ausklingen lassen. Vielen von uns fällt das schwer und wir tendieren dazu, auch am Abend noch einmal in den Aktivitätsmodus zu gehen. Wir sollten uns allerdings angewöhnen, den Abend ruhig zu gestalten, uns zu entspannen und den Tag in einer angenehmen Stimmung mit der Familie zu verbringen und soziale Kontakte zu pflegen. Kommen Sie auch digital zur Ruhe und schalten Sie Ihre digitalen Geräte regelmäßig möglichst früh schon aus, spätestens aber eine Stunde bevor Sie schlafen gehen.

Tipps für den Abend:

  • Entspannen Sie sich und nutzen sie die abendliche Schwere von Kapha, um zur Ruhe zu kommen.
  • Schalten Sie Ihre digitalen Geräte eine Stunde vor dem Schlafen aus.
  • Vermeiden Sie Blaulicht durch Bildschirme am Abend, weil dies die Produktion von Melatonin schwächt und somit das Einschlafen erschweren kann.

„Let’s Groove Tonight“, oder doch nicht? – warum wir die Nacht nicht zum Tag machen sollten

Der Schlaf ist die wichtigste „Therapie“ für Körper und Geist. Der Ayurveda beschreibt ihn neben der Ernährung und dem Vermeiden von Extremen als einen der drei Grundpfeiler von Gesundheit. Die moderne Schlafforschung unterstützt dies und geht davon aus, dass eine Schlafzeit von 7-9 Stunden optimal ist. Der Schlaf wird vereinfacht in REM (Rapid Eye Movement) und NREM (Non Rapid Eye Movement) Schlafphasen eingeteilt. Der erste Teil der Nacht dient überwiegend der körperlichen Regeneration mit einer Dominanz an Tiefschlaf und NREM Phasen. Im zweiten Teil der Nacht überwiegen dann die REM Phasen, in denen vor allem die Erlebnisse des Tages auf neuronaler Ebene verarbeitet und integriert werden.

Es wurde in Untersuchungen festgestellt, dass es in der Amygdala, also dem Angstzentrum im Gehirn, zu einer Steigerung der Reaktivität von bis zu 65% kommt, wenn Menschen nur 4-5 Stunden schlafen und demzufolge die REM Phasen des Schlafs zu kurz kommen. Der Schlaf hat eine überragende Bedeutung für unsere körperliche und mentale Gesundheit. Wenn wir unsere Schlafroutine verbessern, verbessern sich auch unsere zirkadianen Rhythmen.

Tipps für die Nacht:

  • Essen Sie abends eine leichte Mahlzeit.
  • Vermeiden Sie Sport oder andere anstrengende Tätigkeiten am Abend.
  • Schlafen Sie so regelmäßig wie möglich und achten Sie darauf, dass Sie 7-9 Stunden Schlaf bekommen.
  • Achten Sie auf eine ausreichende Abdunkelung des Schlafzimmers und auf ein kühles Raumklima von etwa 18 Grad.
  • Nutzen Sie die Möglichkeiten von Nahrungsergänzungsmitteln, die das Ein- und Durchschlafen unterstützen. Lassen Sie sich hier professionell von einem Ayurveda Spezialisten und/oder einem Orthomolekularmediziner beraten.

Was passiert, wenn unsere inneren Uhren aus dem Takt geraten?

Forscher gehen davon aus, dass bereits kurze Unterbrechungen der zirkadianen Rhythmik einen negativen Einfluss auf unsere Gesundheit haben. Bereits nach einigen Tagen können sich Schläfrigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Reizbarkeit, Erschöpfung, Verdauungsprobleme und eine erhöhte Infektanfälligkeit bemerkbar machen. Langandauernde Unregelmäßigkeiten in der Lebensführung können Grundlage vieler chronischer körperlicher und neurologischer Erkrankungen sein. Was die moderne zirkadiane Forschung jetzt belegen kann, beschreibt der Ayurveda schon seit langen: Regelmäßigkeit in der Ernährung (ahara) und Lebensführung (vihara), ausreichend Schlaf (svapna) und ausreichende Bewegung (vyayama) sind die Grundlagen von Svastha, Gesundheit im ganzheitlichen Sinne.

Wir haben unsere Gesundheit selbst in der Hand. Gewohnheiten zu korrigieren, ist der Schlüssel zur Veränderung. Dabei spielen bezüglich der zirkadianen Rhythmen vor allem der Schlaf, die Ernährung und die Bewegung eine herausragende Rolle. Das Leben ist kein Parkplatz – es ist dynamisch, es pulsiert, es groovt und es lässt uns unsere Lebendigkeit erspüren, wenn wir es zulassen. Gehen wir gegen die natürlichen Rhythmen, so gehen wir gegen das Leben und unsere Lebendigkeit. Wir sind lebendige Wesen, eingebunden in den unendlichen Puls des Universums. Wenn wir uns in diesen Puls einschwingen können, pulsiert auch unser Leben. Das Wissen um die natürlichen Zyklen des Lebens kann uns dabei helfen, die Fülle des Lebens voll auszuschöpfen, uns als Mensch im Einklang mit der Natur zu entfalten und unser Leben wieder zum Grooven zu bringen. Let’s Groove!