Zwischen Disziplin und Gelassenheit

Oft werde ich gefragt: „Lebst Du eigentlich immer ayurvedisch?“. Voller Überzeugung antworte ich dann: „Na klar!“. Denn im Ayurveda gibt es keine Verbote oder Dogmen. Das bedeutet für mich einerseits, mir Abende zu erlauben, an denen ich lange wach bin, mit einem Glas Sekt anstoße, bis in die Puppen schlafe und meine Morgenroutine durch ein Frühstück mit frischen Brötchen ersetze. Es bedeutet aber auch, dass ich meine Routinen dauerhaft beibehalte und sie an Ausnahmezustände, z.B. im Urlaub oder wenn ich beruflich unterwegs bin, anpasse. Ein häufiges Problem ist, dass in Zeiten, in denen wir unsere Routinen am nötigsten bräuchten, sie am ehesten auf der Strecke bleiben. Ich möchte mit Ihnen drei Dinge teilen, die helfen, auch in wilden Zeiten dranzubleiben.

Mindset-Shift:

Der Ayurveda ist für ihr Leben da und nicht ihr Leben für den Ayurveda

Ich erinnere mich noch gut daran, als ich das erste Mal von all den empfohlenen Routinen hörte: früh aufstehen, Zunge schaben, Ölziehen, Ganzkörpermassage, heißes Wasser trinken, Yoga, Meditation usw. Ich war inspiriert, aber gleichzeitig auch maximal überfordert. Denn das war nur die Morgenroutine. Ich hatte keine Ahnung, wie das in meinen Alltag passen sollte. In mir tauchte die Frage auf: „Wer hat denn Zeit, um all das zu machen?“. Ich war überzeugt, dass der Ayurveda nur etwas für Menschen ist, die nicht arbeiten und keine Kinder haben.

Natürlich ist das Unsinn. All die jahrtausendealten Empfehlungen sind Richtlinien. Deshalb gilt es, gelassen zu bleiben und sich nicht mit überzogenen Perfektionsansprüchen zu überfordern. Das Gleiche gilt auch für Phasen unseres Lebens, in denen die Dinge durcheinandergeraten. Bisher lief alles und dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Wir fahren in den Urlaub, das Kind wird krank oder wir ziehen um und müssen früher los, um pünktlich zu sein. Das sprengt unsere liebgewonnene Morgenroutine.

An diesem Punkt muss man sich daran erinnern, dass der Ayurveda für unser Leben da ist und nicht das Leben für den Ayurveda. Routinen sollen uns helfen und nicht terrorisieren. Veränderungen wird es immer geben, und ab und zu müssen wir unsere Routinen an neue Bedingungen anpassen.

Gesundheitstools:

Zoom-In und Zoom-Out

Manchmal kommen wir mit unseren Gewohnheiten nicht weiter und denken, solange die Kinder klein sind, solange ich diesen Job mache, solange ich an diesem Ort wohne, wird das nichts. Möchte ich zum Beispiel eine Morgenroutine aufbauen, habe aber ein kleines Kind, das sofort aufwacht, wenn ich aufstehe, und ich keine ruhige Minute habe, verzweifle ich vielleicht und weiß nicht weiter. Es gibt aber zwei Möglichkeiten, damit umzugehen.

Zoom-Out

Es hilft, die Vogelperspektive einzunehmen. Frei nach dem Motto: „Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht“, brauchen wir oft Abstand, um klarer zu sehen. Das kann räumlich sein. Oft reicht aber die zeitliche Perspektive. In dem oben genannten Beispiel ist es sinnvoll, die nächsten Wochen, Monate und auch Jahre mit in Betracht zu ziehen. Das Kind bleibt nicht ewig klein. Vielleicht habe ich schon einen Kitaplatz in Aussicht oder weiß, dass Kinder in der Regel besser schlafen, je älter sie werden.

Steht mir zum Beispiel mein Job im Weg, kann ich überlegen, ob sich zukünftig etwas ändern kann. Wir hatten schon oft Teilnehmer in den Kursen, die irgendwann den Job gewechselt haben, da der Job nicht zur angestrebten Lebensweise passt. Das kann Monate oder auch Jahre dauern. Und doch hilft es, das aktuelle Problem in eine Langzeitperspektive zu setzen und dort die Lösung zu sehen.

Zoom-In

Habe ich eine Langzeitperspektive entwickelt, die mir bewusst macht, dass sich mit etwas Geduld die Dinge dahingehend verändern werden, wie ich es mir wünsche, nehme ich mir noch einmal die aktuelle Situation vor. Was kann ich aktuell an Veränderungen vornehmen, die mich einerseits der Langzeitperspektive näherbringen und andererseits im Jetzt etwas verändern? Kann ich mich am Morgen in der Kinderbetreuung mit meinem Mann abwechseln? Gibt es andere Lösungen, das Kind zu beschäftigen? Oder kann ich mein Kind sogar in meine Routinen integrieren? Meine Kleinen haben gern mit mir auf der Yogamatte geturnt.

Im Arbeitskontext könnte ich meinen Vorgesetzten bitten, mir mehr Zeit für meine Mittagspause einzuräumen. Ist an einzelnen Tagen Homeoffice möglich? Oder kann ich innerhalb des Unternehmens wechseln? Es gibt oft mehr Alternativen, als wir auf den ersten Blick sehen. Wir sollten genau hinschauen und unsere Langzeitperspektive, die uns den Rücken stärkt, im Blick behalten.

Die Schrumpf-Aufblas-Technik für ihre ayurvedische Routinen

Wenn alles entspannt ist, läuft es meistens gut mit unseren ayurvedischen Routinen. Wir gehen früh ins Bett, essen frisch gekochte Mahlzeiten, starten mit einer Morgenroutine in den Tag, meditieren, üben Yoga, und alles läuft so gut, dass wir nicht daran denken, dass es jemals wieder anders sein könnte. Dann wirft uns eine Erkältung aus der Bahn, unser Kind wird krank oder es kommt eine stressige Phase im Job. Gerade in diesen Phasen sind unsere Routinen wichtig, und doch fällt es dann schwer, dranzubleiben.

Mein Tipp ist die Schrumpf-Technik. Diese Technik basiert darauf, dass es am allerwichtigsten ist, einen Anker für unsere Routinen zu behalten. Es kann sein, dass weniger Energie bzw. Zeit oder die Umstände (zum Beispiel im Urlaub) bestimmte Routinen nicht zulassen. Behalten wir allerdings einen Anker, wird es uns leichtfallen, im gewohnten Umfeld oder mit mehr Ruhe unsere Routinen wieder aufzunehmen und sie zu ihrer ursprünglichen Größe aufzublasen. Haben wir aber komplett alles über Bord geworfen, wird es sehr schwer, wieder neu zu starten.

Meine 30-minütige Yogapraxis minimiere ich auf einen Sonnengruß, während ich darauf warte, dass mein Wasser kocht. Oder ich nehme während des Teetrinkens ein paar bewusste, tiefe Atemzüge als geschrumpfte Version meiner 20-minütigen Meditationspraxis. Schaffe ich es nicht, frisch zu kochen, gehe ich vielleicht zu einem gesunden Mittagstisch. Alternativ kaufe ich mir im Bioladen eine fertige Suppe oder aber koche einen großen Eintopf vor und friere ihn mir in Portionen ein. Ich weiß, das ist nicht streng ayurvedisch, aber immer noch besser als beim Brot oder der Pizza zu landen.

Die Frage ist also: Welche Routinen sind für Sie am allerwichtigsten, um in wilden Zeiten stabil und gelassen zu bleiben? Und wie kann man sie zusammenschrumpfen, anstatt sie aufzugeben? Denn dann wird die Rückkehr zur gesunden Routine viel leichter. Probieren Sie es aus.

Ein paar Worte zum Schluss

Wir sind nun am Ende unserer dreiteiligen Serie „Ayurveda im Alltag“ angelangt. Im ersten Teil ging es darum, alte Gewohnheiten zu durchbrechen und neue, gesündere zu integrieren. Im zweiten Teil haben wir gelernt, dass es einfacher ist, positive Lifestyleelemente zu übernehmen, anstatt sich in Details zu verlieren. In diesem letzten Artikel der Reihe wurde thematisiert, wie wir unsere gesunden Gewohnheiten auch in schwierigen Zeiten beibehalten können.

Der Ayurveda ist weder alt und verstaubt noch zu kompliziert. Wir müssen nur die richtigen Techniken kennen und einfach anfangen. Dabei sollten wir liebevoll mit uns sein und uns nicht überfordern. Dann wird das schon. In diesem Sinne: viel Spaß auf dem Weg!


Heft 65 – Gesundheitsprävention

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Gesundheitsprävention.