Wie der Ayurveda durch seine ungebrochene Tradition die Traditionelle Europäische Naturheilkunde vervollständigen und bereichern kann.

Ob Hippokrates, Hildegard von Bingen, Paracelsus oder Rudolf Steiner – berühmte Ärzte, Heiler und Philosophen prägten das naturheilkundliche Verständnis des so genannten Abendlandes. Mit der Traditionellen Europäischen Heilkunde Ayurveda und die Traditionelle Europäische Naturheilkunde (TEN) sind stark verwandte Heilsysteme. Im Gegensatz zum Ayurveda allerdings wurde das traditionelle europäische Heilwissen durch die Entstehung der modernen Medizin teilweise vergessen oder in Randgebiete abgedrängt.

Was ist TEN genau?


Der Begriff wird gern als „Überbegriff“ für naturheilkundliche Verfahren verwendet, die nicht aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) oder dem Ayurveda stammen.

Historisch bedeutsame Ärzte und Entwicklungen

Hippokrates von Kos, 5. Jahrhundert v. Chr.

Hippokrates gilt als Begründer der Medizin als Wissenschaft. Krankheiten entstehen seiner Forschung nach aus einem Ungleichgewicht der Körpersäfte. Therapiert wird mittels Lebensumstellung, Diät, Arzneimitteln und operativen Eingriffen.

Dioscurides, 1. Jahrhundert n. Chr.

Bedeutendster Pharmakologe des Altertums, veröffentlichte eine fünfbändige Arzneimittellehre, die jahrhundertelang als Standartwerk galt.

Galen(os), 2. Jahrhundert n. Chr.

Der griechische Arzt verfeinerte die Viersäftelehre und prägte für 1500 Jahre die europäische Medizin. Sein Werk ist vorwiegend theoretisch, eine Systematik fehlt. Es diente anderen Autoren und Kommentatoren eher als eine Art „Steinbruch“, aus dem einzelne Wissenstücke herausgebrochen wurden.

Avicenna, um 980, +1037

Avicenna war ein persischer Arzt und Universalgelehrter. Mit seinem „Kanon der Medizin“, in dem er griechische, römische und persische Medizin vereinte, schaffte er ein klar gegliedertes Grundlagenwerk der Medizin, das auch heute noch als Standardlehrbuch des „Unani Tibb“, der traditionellen persischen Medizin, gilt.

Hildegard von Bingen, 12. Jahrhundert

Neben dem Studium der alten Quellen und Erkenntnisse dank göttlicher Inspiration prüfte die Universalgelehrte Hildegard von Bingen Heilmittel, verband das Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit der Volksmedizin und verwendete erstmals die volkstümlichen Pflanzennamen. Ausserdem nutzte sie Edelsteine und Musiktherapie.

Renaissance, 15. Jahrhundert

Es gab auch in der Medizin eine Rückbesinnung auf die antiken Quellen, und man versuchte, Hippokrates und Galen von „arabischen Einflüssen“ zu reinigen. Galens Schriften bekamen eine Art „göttlichen Offenbahrungscharakter“. Erstarrender Galenismus und Erneuerungsbewegungen trafen aufeinander.

Paracelsus, 15. Jahrhundert

Paracelsus schätzte Naturbeobachtung, Volkswissen und Erfahrung höher ein als die dogmatisch gehandhabten Buchautoritäten. Der Arzt und Philosoph bezog Mineralien und Metalle in die Medizin mit ein. Er gründete die „Spagyrik“ als medizinische Form der Alchemie.

Neuzeit, 19. und 20. Jahrhundert

Rudolf Virchow (1821-1902), der Begründer der modernen Pathologie, etablierte das Modell, dass die Krankheitsursache in der Zelle und nicht in den Körpersäften zu finden ist. Humoralpathologie galt seither als veraltete Fehlvorstellung. Verfechter und „Erhalter“ der Humoralpathologie und der ausleitenden Verfahren ist der Paracelsus-Experte Dr. med. Bernhard Aschner (1893-1960).

Kernelemente der TEN

Körpersäfte und Elemente

Krankheiten entstehen aus einem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, gelbe Galle, Schleim und schwarze Galle (Melancholera). Diese Körpersäfte gelten als physischer Ausdruck der vier Elemente Luft, Feuer, Wasser und Erde. Das bei Aristoteles noch vorhandene 5. Element, der Äther, findet zunächst keine Beachtung in der Medizin und taucht erst bei Paracelsus in Form der „Quintessenz“ wieder auf.

Die individuelle Mischung dieser vier Elemente im Menschen bestimmt sowohl Körperbau als auch Krankheitsanfälligkeiten und den Charakter. Die Elemente werden durch Eigenschaften gekennzeichnet. Primär bestimmend dabei sind die beiden Achsen „heiss/kalt“ und „trocken/feucht“. Aristoteles etabliert ein System, nach dem jedes Element aus zwei Eigenschaften besteht und sich, durch Veränderung einer der beiden Eigenschaften, zum nächsten Element wandeln kann. Tabelle 1 zeigt diesen elementaren Zyklus bezogen auf unterschiedliche Lebensbereiche.

ElementSaftEigenschaftTemperamentTageszeitJahreszeitLebensalter
LuftBlutHeiss-FeuchtSanguinikerVormittagFrühjahrKind
Feuergelbe GalleHeiss-TrockenCholerikerMittagSommerJugendlicher
Erdeschwarze GalleKalt-TrockenMelancholikerNachmittagHerbstErwachsener
WasserSchleimKalt-FeuchtPhlegmatikerNachtWinterGreis

Ausgleichsgedanke

Die Eigenschaften der Elemente wurden durch entgegengesetzte Eigenschaften ausbalanciert. So empfiehlt bereits Hippokrates entsprechende Ernährungs- und Verhaltensweisen entsprechend der genannten Qualitäten der Jahreszeiten: Im heissen, trockenen Sommer zum Beispiel soll man nur langsam gehen, viel trinken und feuchte Nahrung zu sich nehmen. Im kalten, feuchten Winter hingegen wenig trinken, schnell gehen und trockene Nahrung zu sich nehmen. Die angewandten Arzneien, Nahrungsmittel, und Verhaltensweisen mussten den krankmachenden Eigenschaften entgegengesetzt sein, um diese auszugleichen. Dies entspricht genau dem Behandlungskonzept des Ayurveda.

Ausleitende Verfahren als „Grundtherapie“

Purgieren (Abführen), Brechmittel, Blutentziehungen, diaphoretische Methoden und Ableitungen über die Haut waren selbstverständlicher Bestandteil der medizinischen Therapie. Die ausleitenden Verfahren waren in der Ayurveda und TEN können eigentlich als ein System in zwei kulturell unterschiedlichen Ausdrucksformen gesehen werden, die sich gut ergänzen können.

Paracelsus und die Alchemie

Paracelsus nimmt eine herausragende Sonderstellung in der Geschichte der europäischen Medizin ein. Er führt die drei Prinzipien Sal, Mercurius und Sulfur (Salz, Quecksilber und Schwefel) ein, die als Strukturprinzip (Sal), die bewegende Energie oder Lebenskraft (Mercurius) und das transformatorische, „brennende“ (Sulfur) Prinzip zu verstehen sind.

Die Ähnlichkeit dieser „Tria Principia“ mit den ayurvedischen Doshas ist nicht zu übersehen. Er prägt ausserdem den Ausdruck „Spagyrik“ (aus dem Griechischen spao „(heraus)ziehen, trennen“ und ageiro „vereinigen, zusammenführen“), um die pharmazeutische Alchemie von der „Goldmacherei“ zu unterscheiden. Die Ähnlichkeiten zur Verarbeitung von Pflanzen, Mineralien und Metallen mit denen der indischen Alchemie, dem Rasa Shastra sind unübersehbar.

Gemeinsamkeiten zum Ayurveda

Wenn man auf die Ebene der Grundprinzipen geht und auch die Diagnose- und Therapieverfahren vergleicht, so fällt es beinahe schwer, von zwei unterschiedlichen naturheilkundlichen Systemen zu sprechen:

  • Die Elementenlehre und deren Eigenschaften als Grundlage
  • gleiche Diagnoseverfahren: Anamnese, Untersuchung von Antlitz und Körperbau, Puls, Augen, Zunge, Haut, Urin und Stuhl etc.
  • gleiche Therapieverfahren: Diätetik, Arzneien (Kräuter, Mineralien, Metalle), ausleitende Verfahren, manuelle Therapien, subtile Therapieverfahren (Musik, Edelsteine, Gebete, Heilbilder)

Beide Systeme lassen sich daher gut kombinieren.


Heft 39 – Hormonelle Balance

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich als Titelthema in Heft 39 mit den Wechseljahren der Frau aus Ayurvedischer Sicht.