Wer kennt sie nicht, die Sagen der Götter aus dem alten Griechenland und dem antiken Rom? Jede Kultur stellt eine Schatzkiste mit Geschichten und Legenden für uns bereit. Begeben Sie sich auf die Suche nach den indischen Göttersagen. Bilder in schillernden Farben entstehen in unserem Geist. Exotische Düfte und Gerüche erfreuen uns gedanklich. Halbgötter, Avatare, Dämonen, wunderschöne Frauen und furchterregende Gestalten begegnen uns. Geschichten sind liebevolle Wegbereiter. Sie entführen uns in eine andere Welt. Sie erfreuen uns und schenken Weisheiten, die wir dankend annehmen dürfen.

Neu und modern interpretiert von Irene Rhyner

Dhanvantari

Vor langer Zeit hegten die Devas (Engelsgötter) und die Asuras (Dämonen) einen gemeinsamen Wunsch. Als Halbgöttern war ihnen zwar ein langes Leben beschert, sie waren jedoch noch nicht zufrieden. Sie alle hatten das gleiche Ziel vor Augen – sie wollten unsterblich werden.

Bhraman, der Göttervater, hatte Erbarmen mit ihnen. Den Götterhimmel mussten sie sich jedoch verdienen. Er stellte ihnen daher eine schier unlösbare Aufgabe. Wenn sie es schafften, aus dem Urmeer des Milchozeans Butter zu schlagen, würde er ihnen ein Elixier mit unendlicher Lebenskraft schenken.

Die helle Sattva-Energie der Devas und die dunkle Tamas-Energie der Asuras verband sich nun mit der leidenschaftlichen Rajas-Energie. Mithilfe der drei Kräfte ersannen die Halbgötter eine Möglichkeit, um gemeinsam ihrem Ziel näher zu kommen. Sie handelten praktisch, aktivierten ihr handwerkliches Geschick und holten sich Hilfe vom Berg Meru und der Schlangengöttin. Diese wickelten sie um den Berg und so zogen abwechselnd die Asuras am Kopf und die Devas am Schwanz. Der erste Quirl war erfunden. Sie rührten, rührten und rührten im Ozean der Unendlichkeit, und zum gegebenen Zeitpunkt hatten sie es gemeinsam tatsächlich geschafft.

Die ersten Sahnewellen zeigten sich am Ufer des Urmeeres. Es erklang ein grollender Donner, darauf folgten Lichtblitze und gigantische Regenbögen. Eine liebliche Melodie erklang. Umwogen von Milchschaum entstieg dem Urmeer ein wunderschönes Wesen mit einer goldenen Schale in einer der vier Hände: Dhanvantari, der Überbringer des heiligen Nektars Amrita. Er brachte die ewige Lebensessenz zu den Halbgöttern. Dhanvantari leuchtete überirdisch, war wunderschön und hielt ihnen den sehnlichst gewünschten Lebensnektar entgegen.

Wer nun denkt, damit wären alle in Eintracht und Zufriedenheit glücklich gewesen, der irrt. Auch Halbgötter sind nicht unfehlbar. Die Dämonen stahlen in der Nacht heimlich den Nektar und wollten die Unsterblichkeit für sich allein. Die Devas, völlig fassungslos über die Untat der Dämonen, suchten nach einem Plan, um den Nektar zurückzugewinnen. Vishnu, einer der Devas, ersann eine List und materialisierte sich zum weiblichen Avatar. Als wunderschöne Mohini bezirzte er die Dämonen und versprach ihnen, den Nektar gerecht zwischen allen Halbgöttern aufzuteilen. Die Dämonen, hingerissen vom weiblichen Charme, glaubten ihr und brachten das kostbare Amrita zu den Devas zurück.

Leider gab es da noch ein „kleines“ Problem: Die Kostbarkeit war begrenzt. Alle Devas erhielten nun einen Tropfen vom Nektar der Unsterblichkeit, für die Dämonen blieb praktisch nichts übrig. Nur die gewitzten Dämonen Rahu und Ketu konnten sich mittels einer Verkleidung unter die Devas schummeln und zwei Tropfen des Nektars erhaschen. Ungesehen konnten sie den Platz aber nicht verlassen und mussten mit dem Verlust ihrer Köpfe büßen. Da sie aber bereits Amrita erhalten hatten, wurden sie dennoch unsterblich. Zwar anders, als sie sich das erhofft hatten, aber immerhin.

Dhanvantari war parteilos, er mischte sich nicht in den Streit ein. Seine Aufgabe war es, zu lehren und Glückseligkeit zu bringen. Er galt fortan als Heilsbringer des langen Lebens (Ayurveda).

Als Schutzgott der Gesundheit konnte er sich nun auf Erden seine Schüler auswählen. Er unterrichtete die wichtigsten Vaidyas (Gelehrten) in der Heilkunst des Ayurveda. Besonders am Lerneifer seines Schülers Sushruta, dem Verfasser eines der ersten wichtigsten Werke
über den Ayurveda, hatte er sehr viel Freude.

Nachdem er sein Wissen vermittelt hatte, wurde er wieder in den Götterhimmel zurückgerufen. Von dort beobachtete der Ayurveda-Patron das Leben auf der Erde. Er ist voller Liebe für die Menschen, die Natur und alle Lebewesen. Er will weiterhin helfen.

Mithilfe seiner sattvischen, heilenden Energie und seinem Wissen findet er immer wieder Mittel und Wege, um alle Ayurveda-Heiler zu unterstützen. Er hilft uns, schwierige Aufgaben zu lösen und schickt uns neue Inspiration, damit das Wissen des Ayurveda wachsen und
gedeihen kann – zum Wohle aller Lebewesen.


Heft 54 – Entschleunigung

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Entschleunigung.