Was hat Schuhe kaufen mit Yoga zu tun? Den alten Überlieferungen zufolge sehr viel. Denn das Yogasystem beinhaltet nicht nur Körperübungen und Meditation. Es zeigt uns auch Verhaltensregeln auf, an denen wir uns im Umgang mit unserer Umwelt und mit uns selbst orientieren können.

Auf dem Weg zum Yoga-Unterricht komme ich manchmal an einer Ballett- Schule vorbei. An warmen Tagen dringt durch die geöffneten Fenster Klaviermusik und die wehenden Vorhänge geben den Blick auf die in tiefer Hingabe an ihr Tun befindlichen Eleven frei. Doch wenn ich dann wenig später meine nicht minder engagierten Yoga-Schüler unterrichte, bin ich tief berührt von der spielerisch anmutenden Konzentration dieser Tänzer und von der Liebe zu dem, was sie gerade tun.

Alles kann Yoga sein

Alles im Leben kann Yoga sein. Kopfstehen und Beine verknoten sind nur Teilaspekte der Disziplin. Beim Yoga kommt es auf die Bereitschaft des Geistes an, vollkommen im Augenblick zu weilen und die Dinge anzunehmen wie sie sind. Ohne Vorurteile. Ohne vorgefasste Meinungen. Wer Yoga praktiziert, erlebt die Welt offen und unvoreingenommen wie ein Kind. Und mit der Begeisterung eines Kindes gibt er sich auch seinem Tun hin, sodass Körper und Geist eine Einheit bilden und das individuelle Sein mit dem kosmischen Sein verschmilzt – sei es beim Kopfstehen, beim Abwasch oder beim Tanz.

Eine der ältesten Überlieferungen der Yoga-Tradition ist das 195 Lehrsätze umfassende Yogasutra des sagenumwobenen indischen Gelehrten Patanjali. In diesem vermutlich aus dem 2. Jahrhundert vor Christus stammenden Leitfaden wird Yoga als achtgliedriger Weg dargestellt, weswegen diese Form auch Ashtanga- Yoga (ashta anga – acht Glieder) genannt wird. Die acht Glieder des Konzeptes (Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana und Samadhi) sollen dazu dienen, den Bewusstseinszustand der Einheit und damit die Befreiung zu erreichen.

Die Grundlagen des Ashtanga-Yoga

Bedeutende Yoga-Meister wie B.K.S. Iyengar gehen davon aus, dass die acht Glieder oder Stufen des Ashtanga-Yoga aufeinander aufbauen. Die Grundlage bilden demnach Yama und Niyama – die Verhaltensregeln zur geistigen und körperlichen Disziplin. B.K.S. Iyengar vergleicht Yama mit der Wurzel, Niyama mit dem Stamm eines Baumes. Die Verhaltensregeln bilden also das Fundament des Ashtanga-Yoga. Hier fängt alles an, was nach oben wachsen, gedeihen und schließlich Früchte tragen soll:

1. Yama (negativ formulierte Verhaltensregeln / was wir gegenüber unseren Mitmenschen und der Umwelt unterlassen sollten):

  • Ahimsa: keine Gewalt anwenden
  • Satya: wahrhaftig sein, nicht lügen
  • Asteya: nicht stehlen
  • Brahmacharya: nicht zügellos sein
  • Aparigraha: nicht begehren

2. Niyama (positiv formulierte Verhaltensregeln / was wir in Bezug auf uns selbst beachten sollten):

  • Shauca: Reinheit
  • Santosha: Zufriedenheit
  • Tapas: Eifer, Disziplin
  • Svadhyaya: Reflexion, Studium
  • Ishvarapranidhana: Hingabe, Vertrauen

Wenn ich meinen Yogalehrer-Anwärtern einen solchen ‚Baumentwurf‘ mit entsprechender Beschriftung als Flipchart präsentiere, sind sie sich meist einig: “Die Welt wäre so friedvoll, wenn jeder diese Verhaltensregeln beherzigen würde”. Und: “Yama und Niyama sollten an jeder Grundschule gelehrt werden”. Doch so sehr wir hehre Grundsätze wie Aparigraha (nicht begehren) auf Anhieb auch schätzen und anerkennen mögen, so schwer fällt uns oft die Umsetzung im Alltag.

Yama und Niyama im täglichen Leben

Wie also können wir Yama und Niyama ins tägliche Leben integrieren? Nehmen wir beispielsweise Ahimsa (keine Gewalt anwenden). Wir sollten darauf achten, unser Gegenüber – sei es Mensch, Tier oder Pflanze – nicht zu verletzen. Oft äußert sich Gewalt bereits in Worten oder in Gedanken. Wir sollten daher darauf achten, was wir sagen, denken und tun. Auch Gewalt gegen uns selbst (indem wir beispielsweise unseren Körper mit Nikotin vergiften) ist zu vermeiden. Die Wahrheit zu sagen (Satya) ist prinzipiell erstrebenswert. Wenn wir aber unser Gegenüber durch das Aussprechen der Wahrheit verletzen (Verstoß gegen Ahimsa), sollten wir lieber schweigen. Beispielsweise könnten wir die Befindlichkeit eines krebskranken Menschen negativ beeinflussen, wenn wir ihm sagen würden, wie elend er aussieht. Es gilt also abzuwägen.

Aparigraha (nicht begehren) können wir üben, indem wir auf den Erwerb der neuesten Markenschuhe verzichten. Oder auf den Verzehr einer Riesenportion Eis mit Sahne. Das heißt nicht, dass wir asketisch leben müssen. Wir sollten uns aber fragen, ob wir alles, wovon sich unser Geist spontan angesprochen fühlt, auch tatsächlich brauchen. Eine besonders schöne Aparigraha Übung besteht darin, etwas, das uns viel bedeutet (sei es ein Gegenstand, Zeit oder Aufmerksamkeit) an einen anderen Menschen zu verschenken.

Mit Ashtanga Yoga zufriedener und achtsamer werden

Das sind nur einige Beispiele für angewandte Praxis der Yama und Niyama. Die Grundlagen des Ashtanga-Yoga sollen geübt, nicht nur intellektuell verstanden werden. Dann werden wir zufriedener, achtsamer und bewusster im Umgang mit unserer Umwelt und mit uns selbst. Und wir schaffen ein Fundament, auf dem der Baum, von dem der Yogameister B.K.S. Iyengar gesprochen hat, nach und nach erblühen kann.

Die Übung von Yama und Niyama bereitet meiner Erfahrung nach größtes Vergnügen. Natürlich tappen wir in Fallen und machen vermeintliche Rückschritte, doch letztendlich gewinnen wir durch jede Erfahrung an Erkenntnis. Damit ist schon viel erreicht. Und ob der Baum dann irgendwann die Frucht der Erleuchtung trägt, ist vielleicht gar nicht so wichtig.


Heft 35 – Allergien

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich als Titelthema in Heft 35 mit der ayurvedischen Behandlung von Allergien.