Die traditionellen Beschreibungen europäischer Heilpflanzen aus der hippokratischen Ära oder der Klostermedizin ähneln in faszinierender Weise der Substanzenlehre aus der Ayurveda-Medizin. Ausgehend vom ayurvedischen Grundsatz, möglichst regional wachsende Rohstoffe einzusetzen, ist es nach Jahren der Erfahrung mit indisch-ayurvedischen Heilpflanzen in Europa nun zeitgemäß, den großen medizinischen Wert einheimischer Pflanzen verstärkt zu integrieren. Diese Notwendigkeit ist aktueller denn je, da Themen wie Artengefährdung und Umweltbelastungen in Indien künftig die Verfügbarkeit ayurvedischer Heilmittel weiter einschränken.

Geschichte der europäischen Pflanzenheilkunde

Die Tradition europäischer Phytologie und Phytotherapie reicht weit zurück. Hippokrates, der Vater der Humoralmedizin, verwendete bereits im 4. Jahrhundert v. C. die Weidenrinde, aus deren Wirkstoff Salicin im 20. Jahrhundert das erfolgreichste Arzneimittel aller Zeiten – Aspirin – entwickelt wurde. Der griechische Arzt und Naturforscher Galenos verfasste im 2. Jahrhundert n. C. ein vielbändiges Werk über damals bekannte Heilpflanzen mit vielfältigen Zubereitungsarten, die das Mittelalter hindurch als verbindlich galten. Die traditionelle, nach ihm benannte Galenik beschrieb die drei zentralen Arzneizubereitungen Infus (Aufguss), Mazerat (Kaltwasserauszug) und Dekokt (Abkochung), die auch im Ayurveda heute noch eine bedeutende Stellung einnehmen. Aus der Galenik heraus entwickelte sich die heutige moderne pharmazeutische Technologie. Im 12. Jahrhundert wurde die Äbtissin Hildegard von Bingen mit ihren großen Werken „Physica” und „Causae et curae” berühmt, die Klöster wurden nun zu Zentren der Medizinkultur. Paracelsus beschrieb im 16. Jahrhundert Heilpflanzen seines Kulturkreises und ihre Wirkungen in seinem Werk „Herbarius” und wetterte gegen Heilpflanzen aus fernen Ländern. Durch Destillation entstanden die ersten wässrigen und alkoholischen Pflanzenauszüge. Im 16. Jahrhundert wurde die Medizin von der Signaturenlehre geprägt, die der äußeren Gestalt einer Pflanze besondere Aufmerksamkeit schenkte und in dieser Heilwirkungen zu erkennen glaubte. Kräutermedizin im 18. und 19. Jahrhundert wurde durch bekannte Ärzte wie Rademacher und Hufeland sowie Theologen wie Sebastian Kneipp und Kräuterpfarrer Künzle betrieben.   Im 20. Jahrhundert kam es zur Entwicklung hochwirksamer und gezielt einsetzbarer Substanzgruppen wie den Diuretika, Antibiotika, Psychopharmaka, Tuberkulostatika und Cortisonen. Aus Heilpflanzen lernte man den Gewinn wirksamer Reinsubstanzen wie Digitalis (Fingerhut), Belladonna (Tollkirsche), Colchicum autumnale (Herbstzeitlose) und Schlafmohn (aus dem man Morphium gewann). Im Zuge moderner Labortechnik widmete sich die Wissenschaft des Abendlandes verstärkt der Analyse chemischer Kompositionen und Inhaltsstoffen der Heilpflanzen, um somit Wirkungsspektren nachweisen zu können. Dadurch entfernte sich die Entwicklung immer mehr von dem Wissen, welches erfahrungsgemäß in vielen Jahrhunderten von naturverbundenen Kennern erlangt und praktiziert wurde.

Grundlagen der Anwendung

Um europäische Drogen (getrocknete Pflanzenteile) ayurvedisch einsetzen zu können, muss der Therapeut aus den vorliegenden Informationen (traditionelle Kräuterschriften und moderne Wirkstoffangaben) eine ayurvedische Klassifikation nach den Prinzipien von Geschmack (Rasa), Eigenschaften (Guna), Wirkung nach der Verdauung (postdigestiv – Vipaka), Potenz (Virya), außerordentlicher Wirkung (Prabhava) und Anwendungsgebieten (Karma) erstellen. Unter pflanzlichen Wirkstoffen versteht man Produkte des Sekundärstoffwechsels einer Pflanze, die hauptsächlich zu deren Schutz dienen.

Hierzu zählen ätherische Öle, Alkaloide, Bitterstoffe, Flavonoide, Gerbstoffe, Glycoside, Anthracenderivate, Saponine, Schleimstoffe, Senföle, Mineralien & Spurenelemente, Phytamine / Phytohormone, Ballaststoffe, Cumarine und Glukokinine. Diese Stoffgruppen werden auch von der westlichen Wissenschaft zunehmend untersucht.

Drogen mit einem hohen Anteil an ätherischen Ölen wie die Engelwurz (Angelicae radix) sind scharf im Geschmack, erhitzend, leicht und penetrierend und werden zur Förderung der Verdauung eingesetzt. Drogen mit einem hohen Anteil an Gerbstoffen wie die Eichenrinde (Quercus cortex) sind herb im Geschmack, trocknend, kühlend und werden zur Wundheilung und bei Durchfallerkrankungen verwendet. Der Zerkleinerungsgrad einer Pflanze stellt immer einen Kompromiss dar zwischen den Zielen: „optimaler Wirkstoffgehalt“ bei einer möglichst groben Zubereitung und „optimale Extraktion“ bei einer starken Zerkleinerung. Im klassisch indischen Ayurveda lag der Schwerpunkt auf Extraktionsoptimierung, in der modernen Phytotherapie hingegen achtet man sehr auf höchsten Wirkstoffgehalt – eine moderne euro-ayurvedische Pflanzenheilkunde kann beide Blickwinkel berücksichtigen. An Zubereitungsarten stehen in Europa alle Formen von Pulverisierung (Churna) und die drei oben genannten galenischen Formen zum Einsatz bereit. Eine beträchtliche Zahl an Frischsäften erweitert das Einsatzspektrum und aus den verfügbaren unzerkleinerten Rohstoffen können eigenständig Öle, Ghee-Zubereitungen (Ghrita), Konfekte und Kräuterweine hergestellt werden. Lediglich die Gruppe der tablettierten Heilmittel steht gegenwärtig nicht nach ayurvedischen Kriterien zur Verfügung.

Eine Rezeptur sollte im Charakter aus 3 Bausteinen bestehen:

  • 1-3 Leitdroge(n) mit primärem Indikationsanspruch — Remedium cardinale
  • 1-5 Unterstützungsdroge(n), die die Wirkbasis verstärken — Remedium adjuvans
  • 1-3 Schmuckdroge(n) ggf. zur Geschmacksverbesserung und für ein schöneres Aussehen – Konstituens

Es ist nicht sinnvoll, mehr als 10 Drogen in einer Mischung zu verwenden, um den Charakter einer Rezeptur noch verstehen zu können. Der Versuch, einige der klassischen Rezepturen aus dem ayurvedischen Formenkreis mit über 50 Zutaten europäisch zu ersetzen, wird sowohl inhaltlich als auch rechtlich scheitern. Ein Umdenken und die Entwicklung der Synthese aus Tradition und moderner Pflanzenkunde ist daher unabdingbar – selbstverständlich ohne Verlust an ayurvedischer Authentizität.

Amapachana — Verbrennung klebriger Rückstände

Um Stoffwechselschlacken (Ama) zu reduzieren, bedarf es des Einsatzes erhitzender, leichter, trocknender, bewegender und rauhiger Drogen. Diese finden wir vor allem in den Wirkstoffgruppen der ätherischen Öle, Bitterstoffe, Alkaloide und Senföle. Folgende Drogen können Sie nach dem oben genannten Schema verwenden:

Leitdrogen (Remedium cardinale)

  • Engelwurz — Angelicae radix
  • Pfefferminzblätter — Menthae piperitae folium
  • Rosmarinblätter — Rosmarini folium
  • Fenchelfrüchte — Foeniculi fructus
  • Anissamen — Anisi semen
  • Enzianwurzel — Gentianae radix
  • Wermutkraut — Absinthii herba

Unterstützungsdrogen (Remedium adjuvans)

  • Kamillenblüten — Matricariae flores
  • Boldoblätter — Boldo folium
  • Schafgarbe — Millefolii herba
  • Wacholderfrüchte — Juniperi fructus
  • Beifußkraut — Artemisiae herba
  • Knoblauchknolle — Allii sativi bulbus
  • Javanische Gelbwurz — Curcumae xanthorrizae rhizoma

Schmuckdrogen sind aufgrund der intensiven ätherischen Öle nicht erforderlich, süße Geschmacksträger sollten auf-grund der Ama-Förderung unbedingt gemieden werden.

Anwendung: Amapachanas können als pulverisierte Mischung (am häufigsten), Dekokt, Aufguss oder Kräuterwein verabreicht werden. Als Pulver empfiehlt sich die Dosierung von je 1-3 Gramm 15 Minuten vor den Mahlzeiten in etwas Ghee oder Olivenöl bzw. einfach nur in heißes Wasser eingerührt. Die morgendliche Nüchterngabe in heißem Wasser ist am stärksten wirksam, erfordert jedoch einen stabilen Magen. Innerhalb von zwei Wochen spüren Sie eine Verringerung Ihrer Ama-Symptome, insbesondere im Magen-Darm-Trakt.

Raktashodhana — Blutreinigung

Unreines Blut (Raktadushti) ist die Ursache vieler Entzündungen, Infektionen, Blut- und Hauterkrankungen. Zur Reinigung kommen meist bittere, herbe, kühlende, trocknende und reizlindernde Drogen zum Einsatz. Diese finden wir vor allem in den Wirkstoffgruppen der Bitterstoffe, Gerbstoffe und Flavonoide. Folgende Drogen können Sie nach dem oben genannten Schema verwenden:

Leitdrogen (Remedium cardinale)

  • Artischockenblätter — Cynarae folium
  • Birkenblätter — Betulae folium
  • Stiefmütterchenkraut — Viola tricoloris herba
  • Löwenzahnblätter, -wurzel und -kraut — Taraxaci folium, radix cum herba
  • Mariendistelfrüchte — Cardui mariae fructus
  • Tausendgüldenkraut — Centaurii herba

Unterstützungsdrogen (Remedium adjuvans)

  • Faulbaumrinde — Frangulae cortex
  • Rhabarberwurzel — Rhei radix
  • Blutwurz — Tormentillae rhizoma
  • Wegwartenwurzel und -kraut — Cichorii radix / herba
  • Bitterkleeblätter — Menyanthidis folium

Schmuckdrogen sind aufgrund der ausgeprägt bitteren Geschmäcker der meisten Blutreiniger nutzlos. Ggf. können Sie mit etwas Honig ausgleichen.
Anwendung: Blutreiniger werden effektiv als Dekokt zubereitet. Köcheln Sie hierzu 25 Gramm Ihrer Mischung mit 400ml Wasser bei mittlerer Hitze 20-25 Minuten auf 100ml ein, filtrieren Sie die Flüssigkeit durch ein feines Teesieb und „genießen“ Sie den Dekokt in 2 Raten à 50ml getrennt von den Mahlzeiten vor- und nachmittags. Nach vier Wochen ist bereits eine deutliche Linderung Ihrer Beschwerden zu erwarten, vorausgesetzt Sie stellen Ihre Ernährungs- und Lebensgewohnheiten gemäß Bedarf um.

Ausblick

Die Zukunft der ayurvedischen Pflanzenheilkunde liegt in Europa. Ich forsche seit 2001 kontinuierlich an neuen Rezepturen und ersetze mittlerweile über die Hälfte meiner Rezepte durch europäische Zutatten ohne Verlust an Wirkung und damit therapeutischen Erfolg. Durch aktive Zusammenarbeit aller erfahrenen Therapeuten werden wir auch in Zukunft den Erhalt der größten Phytologie sicherstellen.


Heft 19 – Europäische Heilpflanzen

Das Ayurveda Journal 19 beschätigt sich mit den Heilkräutern, die auch unter europäischen Klimabedingen wachsen. Unterstützende Heilwirkungen von Brennnessel, Thymian, Salbei & Co. aus dem heimischen Garten.