Achtsamkeit und Ayurveda – wie stärke ich das Bewusstsein für den Augenblick und den eigenen Körper?

Vor kurzem habe ich eine übergewichtige Patientin aus London beraten. Ich habe ihr em-pfohlen, von allen Diäten Abstand zu nehmen und stattdessen auf ihre körperlichen Bedürf-nisse von Hunger und Appetit zu achten. Um meinen Punkt klar zu machen, habe ich nach einem passenden Begriff gesucht und bin auf „mindfulness“ – Achtsamkeit – gekommen. Gleichzeitig erklärte ich, dass ich selbst ein gespaltenes Verhältnis zur Achtsamkeit habe. Denn auf der einen Seite drückt der Begriff genau das aus, was ich darstellen wollte, auf der anderen Seite fühlt er sich für mich inzwischen überstrapaziert an.

Die Patientin bestätigt, dass man auch in London an jeder Ecke einem Angebot mit Achtsamkeit begegnet. Zeit, sich Gedanken zu machen, wo der Ayurveda in Bezug auf Achtsamkeit steht.

Körper, Geist und Seele senden ständig Signale über ihre Befindlichkeit aus. Wir haben verlernt, auf diese Signale zu hören und wenn die Probleme so stark werden, dass sie wehtun oder stören, dann schlucken wir etwas dagegen. Der Weg in Krankheiten ist vorgezeichnet.

Nun muss man verstehen, dass sich das Körper-Geist-System in einem Fließgleichgewicht befindet, wo es ständig innere und äußere Reize integriert und dabei immer wieder in die individuelle Gleichgewichtslage zurückpendelt. Schafft das System es nicht mehr aus sich heraus, die Balance herzustellen, dann meldet es sich über natürliche Bedürfnisse. Gelingt es in einem Frühstadium, die Bedürfnisse wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren, ist die Sache erledigt. Man sitzt beispielsweise in der warmen Herbstsonne und der Körper wärmt sich langsam auf. Der Organismus reagiert auf die zunehmende Erwärmung zunächst mit einer Weitstellung der Gefäße und im nächsten Schritt mit leichtem Schwitzen. Reichen diese Maßnahmen der Autoregulation nicht aus, kommt ein Bedürfnis, die Jacke auszuziehen und die Sache ist erledigt.

Die Regulation der Ernährung erfolgt ähnlich, ist jedoch um ein Stück komplexer. Wie der Volksmund weiß, hält gutes Essen Leib und Seele zusammen. So erzeugt ein gutes Essen körperliche und seelische Zufriedenheit. Nach einigen Stunden, wenn der Blutzucker langsam absinkt, und der Magen sich geleert hat, entsteht nach und nach ein Gefühl von Hunger. Man isst so viel, bis der Hunger gestillt ist, und das Gleichgewicht ist wieder hergestellt. So einfach wäre es, das Gewicht auf einem idealen Level zu halten.

Spricht man jedoch das Thema an, dann antworten die meisten, dass sie schon lange keinen Hunger mehr gespürt haben. Denn Essen erfüllt viele unterschiedliche Bedürfnisse. Neben dem Essen aus Geselligkeit und gesellschaftlichen Verpflichtungen stehen die Erziehung zum Teller leer essen und vor allem das Essen bei Stress im Vordergrund. Hier kommt nun die Achtsamkeit ins Spiel.

Der innere Dialog könnte so aussehen

Ah, ich möchte jetzt was zum Essen. Mmh – halt! Achtsamkeit war ja angesagt, habe ich eigentlich wirklich Hunger? Ja schon, aber kommt es auch vom Körper? Nein, der fühlt sich immer noch satt an. Naja, es scheint mir dann doch eher ein emotionales Bedürfnis nach was Süßem zu sein. Süß, fehlt mir emotional wirklich was Süßes…?

Es mag anfangs nicht so einfach sein, sich gerade durch die emotionale Ebene durchzutasten. Aber sie teilt sich mit einiger Übung relativ schnell mit und man spürt, was fehlt. Wenn man sich angewöhnt, die Bedürfnisse in einfache Begriffe zu fassen wie Stabilität, Wärme oder Ruhe, dann ist man wieder beim Ayurveda und den fünf Elementen. Und oft genügt es, die Aufmerksamkeit auf einen Mangel zu richten, um der inneren Intelligenz zu helfen, sich wieder auszurichten und Lösungen zu produzieren.

Aber zurück zum körperlichen Hunger. Man isst und fühlt man sich anschließend körperlich schwer und geistig träge, dann sind das die Qualitäten des Erdelements und das Essen war einfach zu viel.

Schwere lässt sich durch einen Mittagsschlaf ausgleichen? – Nein, der macht in der Regel noch schwerer und träger. Aber etwas, was den Körper erwärmt – heißes Wasser, Tee oder Kaffee oder etwas Bitteres – könnten die Schwere etwas lindern. Auch leichte Bewegung könnte passen, vorausgesetzt, es besteht ein Bedürfnis danach, ein körperliches Bedürfnis und nicht ein geistiges, das vielleicht von erlernten Lehrsätzen herrührt.

Achtsamkeit beschreibt eine innere Haltung, in der die Aufmerksamkeit in einer annehmenden und nicht bewertenden Form den eigenen Gedanken, Gefühlen und Sinneseindrücken in der Gegenwart folgt. Das stärkt das Bewusstsein für die Qualitäten des Augenblicks und unterstützt die Loslösung von alten Automatismen. Achtsamkeit im engeren Sinne ist Teil der buddhistischen Tradition und hat das Ziel, die wahre Natur der Erscheinungen zu erkennen.

Heute hat die Methode Eingang in die klinische Psychologie gefunden und ist aus der Welt der Coachings nicht mehr wegzudenken. Wer sich mit Meditation oder Stressreduktion befasst, kommt an der Achtsamkeit nicht mehr vorbei.

Seit Jahren hat sich auch die Forschung der Achtsamkeit angenommen, vorwiegend aus dem Bereich der Psychologie, und bestätigt ihre Wirksamkeit bei Stressreduktion, Alltagsbewältigung, Wohlbefinden und vielem mehr.

Wie lässt sich Achtsamkeit trainieren?

Das ist ein unendliches Thema. Für einen leichten Einstieg gefällt mir am besten das Körperfühlen. Man legt sich auf eine feste Unterlage und beginnt nun den Körper Stück für Stück wahrzunehmen. Man kann sich eine Routine zulegen und etwa bei einem Fuß beginnen und langsam nach oben gehen. Über Körperregionen, die sich nicht so gut der Wahrnehmung öffnen, sollte man nicht hinweg huschen. Sie bedürfen vielmehr einer besonderen Aufmerksamkeit. Dem Körper gefällt dies, und er beginnt sich zu entspannen und zu entkrampfen. Ist man mit dem ganzen Körper durch, kann es sein, dass man ihn als ein einziges Energiefeld wahrnimmt. Man lässt die Aufmerksamkeit auf ihm und der Atmung ruhen. Wenn Gedanken einen abdrängen, ist das in Ordnung. Man kehrt dann einfach zum eigentlichen Vorhaben zurück. Wenn man das Körperfühlen einige Male macht, beginnt die Körperintelligenz die Führung zu übernehmen. Sie beginnt die Dinge zu präsentieren, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.

Der Prozess reguliert sich von selbst. Vor einigen Jahren hatte ich ein mehrjähriges Training mit einem Heiler der Maori aus Neuseeland. Eckpfeiler in den Heilsitzungen war auch hier die Verbindung mit elementaren Kräften der Natur. Unser Lehrer war der Meinung, dass man die Elemente am besten kennenlernt, wenn man sich ihnen unmittelbar aussetzt. So fanden wir uns eines Tages über eine halbe Stunde direkt vor einem Wasserfall, knöcheltief im Wasser stehend. Das klingt nicht viel, ist aber im März im Gebirge von der ersten Sekunde an eiskalt.

Wir haben dies in den darauffolgenden Jahren in den unterschiedlichsten Formen wiederholt. Jedes Mal zeigte sich mir das Wasserelement von einer anderen Seite. Einmal bin ich in eine so immense Stille durchgetaucht, dass ich auf dem 15-minütigen Rückweg zum Parkplatz die Augen nicht öffnen konnte.

Da sich unser Bewusstsein die letzten Jahrtausende in der Auseinandersetzung mit der Natur geformt hat, finden wir dort natürlich gute Bedingungen für eine intensive Verbindung mit den Elementen. Es muss natürlich kein Wasserfall sein, um einen Zugang zur Wesenhaftigkeit der elementaren Kräfte zu bekommen und das Spiel von innen und außen zu spüren.

Und es ist fast unnötig zu erwähnen, dass Achtsamkeit mit den Qualitäten des Nichtwerten und Nichterwarten der Zugang für diese Erfahrungen ist. Das Umgekehrte ist jedoch auch gültig. Sobald sich die Verbindung zum Inneren der Elemente einstellt, befindet sich der Geist im Zustand des reinen Gewahrseins.
Nicht jeder Mensch kann täglich in die Natur. Deshalb bietet es sich an, sich für zu Hause eine kurze Routine zu schaffen, um in Kontakt mit den Elementen zu kommen. Das kann in der Form einer Meditation, eines Gebets oder eines kleinen Rituals sein. Wichtig dabei ist die Intention. Das Leben selbst wird den Weg weisen. Bis zu dem Punkt, wo man nicht mehr Ayurveda ausübt, sondern im Fluss des Lebens ist.

Ayurveda

Ayurveda besteht entsprechend den ersten Versen der Charaka-Samhita seit Beginn der Schöpfung. Er ist die stille Matrix jeder möglichen Lebensform, die in ihrer Vollständigkeit für das menschliche Gehirn nicht erfassbar ist. Dieser Fluss an Wissen und Information ist Teil allen Lebendigen und leitet aus der Stille des Bewusstseins heraus, das Werden und Leben eines jeden einzelnen.

Die Grundlagen des Ayurveda selbst sind durch und durch phänomenologisch aufgebaut. Phänomenologisch heißt, der Ursprung der Erkenntnisgewinnung liegt den unmittelbar gegebenen Erscheinungen, eben den Phänomenen, zugrunde. Selbst wenn man sich damit intellektuell befasst, kann man der darin eingebauten Achtsamkeit nicht entkommen, auch wenn der Begriff nicht extra genannt wird.

Ayurveda und Vaisheshika – Achtsamkeit als Methode

Der Ayurveda baut methodisch auf Vaisheshika auf, einer Naturphilosophie, der es um die Erfassung und die Unterscheidung natürlicher Phänomene geht. Das ist wichtig, wenn man Krankheiten oder Heilkräuter erkennen und unterscheiden möchte.

Von den sechs indischen Methoden zur akkuraten Wissensgewinnung lässt Vaisheshika lediglich zwei zu: die unmittelbare Beobachtung und die Schlussfolgerung. Die Beobachtung beruht alleine auf der Verbindung der Sinnesorgane mit dem Objekt und ist frei von Konzepten und Meinungen anderer. Es verwundert hier nicht, dass Vaisheshika große Nähe zum Buddhismus hat.

Auf der Grundlage von Vaisheshika lässt sich der Ayurveda als die Wechselwirkung von fünf elementaren Kräften verstehen, die sich phänomenologisch als Doshas, Dhatus, Agnis, Srotas und Malas zeigen. In anderen Worten, wer die Sprache der fünf Elemente versteht, in dem lebt der Ayurveda.

Die fünf Elemente werden über ihre Eigenschaften (Gunas) sichtbar. Der Wind z. B. ist leicht, kalt, beweglich und trocken. Die Orientierung an diesen Eigenschaften ist wertfrei. Über die ayurvedische Diagnose verschaffen sich Arzt oder Therapeut ein Bild über Verteilung und Qualität der Gunas. Obwohl dieses Vorgehen subjektiv ist, bringt es über seinen phänomeno-logischen Ansatz reproduzierbare Ergebnisse und ist eine strenge Wissenschaft im Sinne Husserls. Die Therapie beruht auf einem angemessenen Ausgleich der Elemente und ihrer Eigenschaften.

Denkt man über Achtsamkeit im Ayurveda nach, drängen sich die Elemente und ihre Eigenschaften geradezu auf. Die Beschreibung der komplexen Formen der Natur durch einfache, wertfreie Qualitäten ist in ihrer Reduktion auf das Wesentliche genial. Fast könnte man glauben, die Natur würde selbst in dieser Sprache kommunizieren.

Die Beschäftigung mit dem Ayurveda bringt die Aufmerksamkeit fast mühelos auf das Wechselspiel der Gunas – Hitze, Rauigkeit, Leichtigkeit, Trockenheit, Beweglichkeit, Trägheit etc. in Körper, Geist, Emotionen und der Umwelt. Diese einfache Form der wertfreien Wahrnehmung heißt in Vaisheshika „Pratyaksha“. Sie ist die Basis einer unaufgeregten, fast automatischen Gegenregulation. Ein warmes Bad bei Kälte, Entspannung und Ruhe bei geistiger Fahrigkeit, Einölen bei emotionaler Sprödheit oder körperlicher Trockenheit usw. Dabei sollten nicht die ayurvedischen Tipps für den Alltag die Richtschnur sein sondern das Empfinden für die eigenen Bedürfnisse.

Das achtsame Erspüren der Gunas führt zu Schlussfolgerungen, zu „Anumana“, die die Gegenregulation weiter verbessern. Die Trägheit kommt vom Abendessen, die Kälte von einem zu langem Spaziergang bei schlechtem Wetter, die emotionale Trockenheit von einem Mangel an Nähe und Liebe. Mit dem achtsamen Erspüren der Erscheinungsformen der Elemente und einfacher Schlussfolgerung beginnt der Ayurveda aus sich heraus zu leben.

Ayurveda, die Matrix des Lebens, das ist man selbst.


Heft 48 – Im Fluss des Lebens

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