Achtsamkeit ist ein wesentlicher Bestandteil des Yoga. Verschiedene Techniken helfen dabei, die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit auf allen Ebenen zu üben und zu etablieren. „Mindfulness“, die Achtsamkeit, ist rund um den Globus in aller Munde. Besonders in den vergangenen Jahren verbreitete sich der Begriff rasant und wurde immer populärer. Aber auch wenn heutzutage nun so viel über Achtsamkeit diskutiert wird, ist sie keine neuzeitliche Erfindung.

Denn wenn das Bedürfnis nach mehr Achtsamkeit vor allem unserem schnelllebigen und stressvollen Leben geschuldet ist, zeigt der Blick in die Geschichte, dass Achtsamkeits-techniken immer schon einen wesentlichen Bestandteil yogischer und buddhistischer Praktiken bildeten. Zum Beispiel beim „Mindfulnessbased Stress Reduction“-Training, das vom amerikanischen Professor Jon Kabat-Zinn entwickelt wurde, der an der University of Massachusetts Medical School Achtsamkeitsmeditaton unterrichtet.

Welche Bedeutung hat nun die so genannte Achtsamkeit eigentlich im Yoga? Gibt es so etwas wie einen „achtsamen“ beziehungsweise „unachtsamen“ Yoga? Wenn ja, was unterscheidet den einen vom anderen Yoga? Bedarf es einer besonderen Bezeichnung („Achtsamkeitsyoga“), um dies hervorzuheben? Welchen Stellenwert nimmt die Achtsamkeit im Yoga ein – und wozu dient sie letztendlich?

In der westlichen Rezeption des Yoga hat sich ein weit verbreitetes Missverständnis etabliert, nämlich dass der Yoga sich maßgeblich um die Ertüchtigung des Körpers mit dem Ziel größerer körperlicher Geschmeidigkeit und Beherrschung bemühe. Dabei ist der Zusammenhang zwischen dem Üben mit dem Körper (Āsana) und dem Bemühen um Verinnerlichung und erhöhte Aufmerksamkeit (Samyama) verloren gegangen, und es besteht im allgemeinen große Unklarheit darüber, wie die yogische Körperpraxis den Zustand der Achtsamkeit (oder Meditation) vorbereitet.

Immer wenn von Yoga und Meditation die Rede ist, dann wirkt es bisweilen so, als seien dies zwei verschiedene Paar Schuhe, so als hätte das eine zunächst gar nichts mehr mit dem anderen zu tun. Dabei ist die Übung und der Zustand der Meditation (Achtsamkeit) von Anfang an der wesentliche Bestandteil des Yoga, nur dass dieser im Laufe der Zeit auf verschiedene Bereiche ausgeweitet wird.

Beschäftigt man sich jedoch eingehender mit der lebendigen Tradition des Yoga, so wird schnell deutlich, dass der Yoga einen Weg umfassender Persönlichkeits- und Achtsamkeits-schulung darstellt, der das Körperliche ebenso integriert wie die Erfahrung des Atems und der damit eng verbundenen Lebensenergie, als auch des gesamten Feldes inneren Erlebens (Gefühle, Gedanken, Bewusstsein) und der Beziehungen zu unserer Umgebung.

Im Kern ist der Yoga also nichts anderes als die Methode, einen Zustand erhöhter Aufmerk-samkeit (nämlich Achtsamkeit) zu erreichen und diesen dann auch über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Im sogenannten Hatha Yoga geschieht dies, indem der gut erfahrbare Körper nicht nur als grundlegendes Übungsfeld sehr geschätzt wird, sondern dessen Ausgleich und Integration auch als wichtige Voraussetzung für die Ausweitung der Achtsamkeit in subtilere Lebensbereiche betrachtet. Bevor ich zum Beispiel lerne, die Tätigkeit meines Geistes genauer zu beobachten und lenken zu können, scheint es zunächst einmal leichter zu sein, meine Aufmerksamkeit auf die Bewegungen und Empfindungen der Körperteile auszurichten und meine Fähigkeit zur Achtsamkeit dadurch zu schulen. So wie ein Musiker ein Instrument nutzt, um sich durch das Üben mit diesem musikalisch weiterzuentwickeln, so nimmt der Yoga-Übende den eigenen Körper als Übungsinstrument, um andere Stufen der Selbsterfahrung zu ermöglichen und vorzubereiten. Dieser Zustand erhöhter Aufmerksamkeit (Samāhita citta) wird im Laufe der Zeit durch verschiedene Erfahrungsfelder hindurchgeführt:

Das Feld, in dem wir unsere Achtsamkeit hauptsächlich auf den Körper ausrichten, wird Āsana genannt

Die einzelnen Übungen ermöglichen Erfahrungen mit dem eigenen Körper, mit dessen Möglichkeiten und Begrenzungen und leiten immer mehr zum Zustand des Āsana hin: einer körperlichen Erfahrung inneren Geordnetseins, wodurch ausdauernde Achtsamkeit wiederum befördert wird. Denn wenn ich mich körperlich unwohl fühle, müde und abgespannt bin oder Schmerzen habe, ist es auf jeden Fall sehr viel schwieriger achtsam zu bleiben.

Wenn die körperlichen Empfindungen durch ein besseres Verständnis ihrenbisweilen störenden Charakter verlieren und in sinnvoller Weise integriert werden können, dann entsteht immer mehr Freundschaft zum eigenen Körper, der dann zu einem „Haus der Stille“ wird. Im Gegensatz zu sportlich-kompetitiver Körperpraxis zielt die yogische Praxis letztendlich immer auf die Vorbereitung eines inneren Zur-Ruhe-Kommens (citta-vrtti-nirodhah) hin.

Das Feld, in dem die Achtsamkeit auf die Lebensenergie ausgerichtet wird, heißt Prānāyāma

Darin geht es um die Kultivierung und den Ausgleich der eigenen Lebensenergie. Dem Verständnis des Yoga zufolge stellt die Lebensenergie (Prāna) eine Art Matrix für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden dar, da die Atmungsaktivität mit vielen physiologischen Prozessen eng verbunden ist. Daher ist es vor dem Hintergrund gesundheitsorientierten Interesses so lohnenswert, die Achtsamkeit allmählich in dieses Feld hinein bis zu einem Punkt auszudehnen, wo wir unsere persönliche Lebenskraft als Teil einer größeren uns umgebenden Lebenskraft erfahren. Die Atem-Achtsamkeit spielt auch deshalb eine so große Rolle, da wir ohnehin atmen müssen und der Atem uns jederzeit eine helfende Hand reicht, die wir ergreifen können. Der Atem verbindet jeden Menschen unmittelbar mit der Gegenwart.

Das dritte große Feld, das sich schließlich mit dem gesamten psycho-emotional-mentalen Erleben beschäftigt, bezeichnen wir für gewöhnlich mit dem westlichen Begriff Meditation (Samyama)

Zunächst wird die Tätigkeit der Sinne betrachtet, dann die Tätigkeit des Geistes selbst und in der letzten Stufe wird die Achtsamkeit auf das Bewusstsein als solches ausgerichtet. Der wesentlichste Übungsschritt im Yoga ist dann der Perspektivwechsel von dem, worauf die Aufmerksamkeit ausgerichtet wird, hin zu dem, was die Fähigkeit hat, sich auf etwas auszurichten, also vom Beobachteten zum Beobachter und dessen Natur: Was ist mein eigentliches Wesen? Wovon gehen meine Handlungen aus?

Wenn wir versuchen, dies zu verstehen, dann kommt ein tiefgehender Wandel in Gang, der auch lebendige und sinnvolle Werte hervorbringen kann, die ihren Niederschlag wiederum in den ethischen Grundlagen des Yogaweges (Yama und Niyama) gefunden haben und die zugleich die höchste Blüte des Yogaweges darstellen. Hier schließt sich dann der Kreis des achtfachen Yogaweges (Patañjala Ashtanga Yoga).

Für diesen Prozess liefern die verschiedenen Yogatraditionen unzählige, bewährte Techniken, um die Fähigkeit zum Achtsamsein auf allen Ebenen einzuüben und zu etablieren. In diesem Sinne unterscheiden sich die modernen Yoga-Richtungen und -Stile nicht so sehr in der Tatsache, dass sie alle zunächst die Achtsamkeit mithilfe körperlicher Übungspraxis erzeugen, sondern vor allem darin, worauf sie dann im Folgenden diese Aufmerksamkeit ausrichten. Meistens bleibt die Aufmerksamkeit zu sehr auf das Feld körperlicher Erfahrung beschränkt. Wichtig ist es jedoch, die Achtsamkeit im Laufe der Zeit durch alle andere Erfahrungsfelder hindurchzuführen, damit die Yogaerfahrung vollständig wird.

Anfänger und Fortgeschrittene praktizieren oftmals die gleichen oder ähnliche Übungen, aber was den Fortgeschrittenen vom Anfänger unterscheidet, ist die Art und Weise, wie er übt. Ein und dieselbe Übung kann auf sehr unterschiedliche Weise ausgeführt werden, wodurch sich ihre Wirkungsweise grundsätzlich verändert.

Wenn Achtsamkeit gesucht wird, muss vor allem darauf geachtet werden, wie geübt wird. Die eigentlichen Techniken treten dann mehr und mehr in den Hintergrund zurück.

Ob ich Āsana praktiziere, abspüle, arbeite, esse oder spazieren gehe – durch eine bestimmte innere Haltung wird aus jeder Tätigkeit eine Übung im Sinne des Yoga, eine Übung in Achtsamkeit

Daher möchte ich an dieser Stelle nicht auf bestimmte Techniken zu sprechen kommen, sondern diese innere Haltung durch die folgenden Punkte veranschaulichen:

Angemessenheit im Üben

Yatha shakti

Die Praxis sollte sich immer nach den aktuellen Möglichkeiten des Übenden ausrichten. Entspricht das, was ich tue, meiner Kapazität und Energie? Wenn die Übung unangemessen ist, dann entsteht ein Konflikt zwischen dem, was möglich ist und dem, was gewollt wird. Wenn etwas extrem Schwieriges erzwungen wird, kann dies nicht nur zu Verletzungen führen, sondern es führt vor allem an der Erfahrung des „Einfach-Hierseins“ vorbei.

Dies bedeutet, dass sich unser Üben am inneren Empfinden und nicht an äußeren Konzepten, Ideen oder Vorstellungen orientieren sollte. Es ist nicht wichtig, wie es aussieht, aber sehr wichtig, wie es sich anfühlt.

Schritt für Schritt vorgehen

Shanai, shanai

Yoga ist prozesshaft und kann nur Schritt für Schritt verwirklicht werden. Um an der Übung erfolgreich zu wachsen, sind einzelne Schritte nötig, langsam und nachvollziehbar, damit sie sinnvoll integriert werden können. Zu große Schritte irritieren und bringen Unruhe, was der Erfahrung eines achtsamen Zustandes und innerer Stille entgegen steht. Daher sollte die Übungspraxis sich im Laufe der Zeit verfeinern und anstrengungsloser und leichter werden. Ich gehe mit Geduld und Ausdauer weiter – ohne besondere Erwartung und ohne Erfolge, Misserfolge und die Ergebnisse insgesamt immer beurteilen zu müssen.

Ausrichtung des Übens hin zu mehr Bewusstheit

Adhyātma cetasa

Alles, was ich im Namen des Yoga tue, sollte dabei helfen, mir meiner selbst bewusster zu werden. Ich mache alles mit größtmöglicher Aufmerksamkeit, Hingabe und wohlwollendem Interesse, um herauszufinden, was mich innerlich frei werden lässt und was mich unfrei macht. Ich bemühe mich um große Wachsamkeit in meiner Yogapraxis auf der Matte als auch in meinen konkreten Alltagspflichten, die dabei das beste Übungsfeld sind.


Wenn Achtsamkeit zunächst als zu erübende Fähigkeit gesehen wird, so entwickelt sie sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einem anstrengungslosen Zustand,zum natürlichen Zustand meines wahren Wesens.

Wenn ich in dieser Weise mit mir umgehe, dann entsteht die Fähigkeit zum Achtsambleiben, die allmählich Wurzeln in alle Lebensbereiche sendet. Aus einzelnen Achtsamkeitsinseln im Alltag entstehen im Laufe der Zeit zusammenhängende Landmassen, mit anderen Worten: Der Radius meiner Achtsamkeit dehnt sich im Laufe der Zeit immer weiter aus. Der Yoga verlässt die Matte und wird Bestandteil des alltäglichen Lebens.

Das Rückgrat der Achtsamkeit bildet die regelmäßige Praxis der verschiedenen Techniken, die wie ein Kristallisationspunkt für die Ausweitung der Achtsamkeit wirken. Achtsamkeit wieder-um bildet den Nährboden für Geduld, Liebe und Mitgefühl. So treten bei achtsamen Menschen wie von selbst Bereiche wie Gesundheit, Ernährung, gute Beziehungen oder Nachhaltigkeit in den Fokus ihres Interesses.

Wenn der Segen der Achtsamkeit im eigenen Leben Einzug hält, dann beschenkt uns der gegenwärtige Moment mit Sinn und Erfüllung, was immer auch gerade geschieht. Und dies ist der vielleicht wichtigste Beitrag zur Gesundheit.

Schon Meister Eckhardt, der große Philosoph des Mittelalters, erklärte den Wert der Achtsamkeits-Praxis mit folgenden Worten:

Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gegenüber steht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.

Einfache Übung in der Rückenlage

  1. Liege auf dem Rücken und stelle die Füße auf.
  2. Beobachte den natürlichen Atemfluss.
    Wie fließt der Atem?
    Welche Empfindungen in deinem Körper sind es, die dich darüber informieren, dass der Atem jetzt stattfindet?
  3. Lasse den Atem ganz langsam und schrittweise tiefer und vollständiger werden.
    Lasse diese Atemvertiefung sehr allmählich und behutsam unter Berücksichtigung der inneren Empfindungen geschehen.
    Atemvertiefung und die inneren Empfindungen sollten Hand in Hand gehen.
    Wie fühlt sich der Atem jetzt an?
  4. Überlasse den Atem wieder ganz sich selbst.
    Was hat sich verändert?
    Wie fühlst du dich jetzt?

Heft 48 – Im Fluss des Lebens

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