Erst die Diagnose – dann das Rezept

Ayurvedische Diagnostik ist multimodal. Sie setzt sich aus der mündlichen Befragung im Anamnesegespräch und der körperlichen Untersuchung zusammen. Im Anschluss werden alle Ergebnisse ausgewertet, um die Entstehung und Entwicklung der Beschwerden mit allen daran beteiligten Faktoren ganzheitlich zu verstehen. In unserer neuen Artikelserie „Diagnosetechniken im Ayurveda“ stellen wir Ihnen die wichtigsten ayurvedischen Untersuchungsverfahren einzeln vor.

Nadi Pariksha – Die ayurvedische Pulspalpation

Die Pulsdiagnose ist vielleicht das ayurvedische Verfahren, welches das Publikum am meisten fasziniert. Hierfür legt der Ayurveda-Arzt seine drei Fingerkuppen von Zeige-, Mittel- und Ringfnger sanft auf die Hautoberfläche des Patienten oberhalb des Handgelenks, da wo das Pochen der Arterie zu spüren ist. Der Zeigefnger liegt in der dort zu tastenden Vertiefung, die beiden anderen Finger entspannt daneben, ebenfalls auf der Arterie. Voll konzentriert, fast schon meditativ, nimmt der Arzt feine Qualitäten wahr und fühlt sich in seinen Patienten ein.

Die klassischen Ayurveda-Schriften erwähnen die Pulsdiagnose Nadi Pariksha nicht. Das erste schriftliche Zeugnis fndet sich im Sharangadhara Samhita aus dem dreizehnten nachchrist-lichen Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert beschreibt der Yogaratnakara die Pulsdiagnose als Bestandteil einer achtfachen Untersuchungsmethodik, der Ashtavidha Pariksha. Zu den acht Verfahren zählen neben der Pulspalpation auch die Untersuchung von Urin, Stuhl, Zunge, Geräuschen (Stimme, Herz, Bauch, Gelenke), Haut, Augen und Gesamterscheinung.

Nadi bedeutet im Sanskrit sowohl Puls als auch Nerv und charakterisiert die feinen Energiebahnen, durch die Prana, die Lebenskraft, strömt. Somit reflektiert der Puls traditionell den Zustand von Prana und der Nervenenergie.

Sharangadhara schrieb: „Der radiale Puls steht für die Präsenz des Lebens. Der Arzt sollte in der Lage sein, Gesundheit und Krankheit über die Aktivitäten des Pulses zu erfassen.“

In den genannten ayurvedischen Schriften fehlen konkrete Beschreibungen zur Durchführung einer Pulsuntersuchung. Daher haben sich in den Ursprungsländern Indien und Sri Lanka regional unterschiedliche Stile entwickelt. Seien Sie also nicht irritiert, wenn ein Ayurveda-Arzt Sie andersartig untersucht und seine Eindrücke anders interpretiert als Sie es vielleicht bislang gewohnt waren.

Die Pulsbewegung ist sehr fein und schnell veränderlich. Faktoren wie Hunger und Durst, Schlafmangel und Emotionen beeinflussen seine Qualitäten. Der Patient sollte am Unter-suchungstag keinen Alkohol oder Koffeingetränke konsumiert haben und in entspannter Atmosphäre untersucht werden. Nacheinander wird an beiden Handgelenken der Puls gefühlt. Ausschlaggebend ist bei Frauen die linke und bei Männern die rechte Seite.

Pulse zeigen vor allem subtile, aktuelle, kurzzeitige Zustände und Befndlichkeiten an und können diagnostisch als wichtiges Kriterium zu Behandlungsverläufen herangezogen werden. Manche ayurvedische Schulen interpretieren aus dem Puls auch konstitutionelle Qualitäten. Die Pulsdiagnose erreicht ihre höchste Qualität und Aussagekraft erst im Zusammenhang mit der Anamnese und allen weiteren Untersuchungsverfahren. Eine Portion gesunder Skepsis ist durchaus angebracht, wenn ein Therapeut Ihren Therapieplan ausschließlich auf seiner Pulsdiagnose begründet. Je fähiger ein Diagnostiker ist, desto umfangreicher wird er untersuchen.

Grundlagen der Interpretation

Ayurvedisten charakterisieren typische Verlaufsformen des Pulses gern mit Hilfe anschaulicher Tierbilder: Bei hohem Vata bewegt sich der Puls „wie eine Schlange“ (Sarpagati), bei hohem Pitta „wie ein Frosch“, (Mandukagati), bei hohem Kapha „wie ein Schwan“ (Hamsagati). Einer meiner indischen Lehrer, Prof. R.H. Singh von der Benares Hindu University in Varanasi, hat die Pulsuntersuchung ayurvedisch weiter systematisiert. Er unterscheidet vier Basisaspekte und setzt diese als Kriterien in Bezug zu den drei Doshas Vata, Pitta und Kapha.

Die vier Parameter sind

  • Pulsrate: Die Schnelligkeit der Pulsfrequenz
  • Pulsrhytmus: Die Regelmäßigkeit des Pulsschlages
  • Pulsamplitude: Der vertikale Ausschlag des Pulses
  • Pulsvolumen: Die horizentale Breite der Pulswellen
  • Ein durch Vata Dosha beeinflusster Puls ist schnell, unregelmäßig, dünn, von variabler Amplitude und geringem Volumen.
  • Ein mittels Pitta Dosha beeinflusster Puls ist mittelschnell, relativ regelmäßig, von hoher Amplitude und mittlerem Volumen.
  • Ein durch Kapha Dosha beeinflusster Puls ist langsam, absolut regelmäßig, von niedriger Amplitude und hohem, breitem Volumen.

Die Topographie des Pulses

Im Ayurveda fühlen wir den Puls weiblicher Patienten vorrangig am linken, den Puls männlicher Patienten am rechten Handgelenk mit jeweils drei Fingern in drei Tiefen – daraus ergibt sich ein 9er Raster, in dem jede Position ihre diagnostische Bedeutung hat.

Der Zeigefinger tastet die handgelenksnahe (distale), der Mittelfnger die mittlere und der Ringfnger die rumpfnahe (proximale) Position. Diese drei Taststellen werden Vata (Zeigefinger), Pitta (Mittelfnger) und Kapha (Ringfnger) zugeordnet. Tiefliegende Pulse weisen Kapha-Dominanz, oberflächlichere Pulse Vata- und Pitta-Dominanzen auf.

Guna – Eigenschaften des Pulses

Im Ayurveda werden 20 Eigenschaften in 10 Gegensatzpaaren beschrieben, die auch diagnostisch bedeutend und aufschlussreich sind. So kann ein Puls heiß oder kalt, leicht oder schwer, träge oder penetrant, trocken oder feucht, hart oder weich, statisch oder beweglich, klar oder dumpf, subtil oder grob, dünn- oder dickflüssig, rau oder glatt sein. Jede einzelne Eigenschaft korreliert mit funktionellen oder strukturellen Parametern von Körper und Geist. Alle Eigenschaften zusammen ergeben ein komplexes Pulsmuster mit ayurvedisch wertvollen Informationen über den Patienten, seine Befindlichkeiten und seinen Gesundheitszustand.

„Erst ab 1000 Pulsen beginnst Du zu unterscheiden und zu vergleichen“ sagte 1994 mein erster Ayurveda Lehrer Dr. Arora im nordindischen Rishikesh.

Unser Puls spricht die Sprache unseres Inneren – ob und wie umfangreich und detailliert diese vernommen und verstanden werden kann, hängt von den individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen des Therapeuten ab.

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Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 2: die Zungendiagnose
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 3: Ausscheidungen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 4: Gesundheit und Krankheit hören
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 5: mit den Händen sehen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 6: in Augen und Antlitz lesen
Diagnosetechniken im Ayurveda – Teil 7: die Anamnese


Heft 49 – Detox auf ayurvedisch

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