Ist Deutschland ein einziges Vata-Pitta-Land?

Immer mehr Hektik, mehr Druck, mehr Medienkonsum und unregelmäßige Lebensrhythmen.

Denk ich an Deutschland, dann denke ich an das Land der Dichter und Denker, das weltweit bekannt ist für schnelle Autos, ein kompliziertes Steuersystem und absolute Präzision. An Menschen, die das Leben ernst nehmen, viel arbeiten und die den mittlerweile globalisierten Begriff „German-Angst“ geprägt haben.

Fleiß, Ordnungssinn, Verantwortungsgefühl und Leistungsbereitschaft. Diese vermeintlich „typisch deutschen“ Eigenschaften zählen aus ayurvedischer Sicht zu den Tugenden, die dem Pitta zugeordnet werden.

Burnout – typisch deutsch?

Dass heute aber auch jeder dritte Deutsche unter Stresserkrankungen wie Burnout, Erschöpfungsdepressionen, Schlafstörungen, Tinnitus oder Angstzuständen leiden soll, weist auf einen extremen Vata-Überschuss hin. Ist Deutschland also ein Vata-Pitta-Land? Um diese spannende Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, sich die Feinheiten der Konstitutionseigenschaften vor Augen zu halten: Grundsätzlich verfügt jeder Mensch über eine individuelle Konstitution, deren Dosha-Balance über persönliche Erscheinung, Neigungen und Talente entscheidet – und auch für Gesundheit verantwortlich ist.

Das Vata-Dosha

Das von Luft und Äther gebildete Bewegungsprinzip macht uns leicht, beweglich, kreativ, spontan und empfindsam. Wer ein hohes Vata hat, der neigt zu körperlicher und mentaler Labilität, Ängsten, Überlastungserscheinungen, schläft oft schlecht und hat ein schwaches Immun- und Verdauungssystem.

Das Kapha-Dosha

Das von Wasser und Erde gebildete Stabilitätsprinzip erfüllt uns mit einer entspannten Lebenshaltung, die sich durch Bequemlichkeit, Familiensinn, Genussfreude und zufriedener Gelassenheit auszeichnet. Ist das Kapha zu hoch, entstehen Antriebslosigkeit, Übergewicht, Diabetes und Depressionen.

Das Pitta-Dosha

Das von Feuer und etwas Wasser gebildete Umsetzungsprinzip schenkt uns kraftvolle Dynamik, Leistungs- und Durchsetzungsfähigkeit, fördert den Ehrgeiz und Perfektionismus aber auch körperliche Entzündungen, mentale Reizbarkeit und Unzufriedenheit und Frustration, übermäßige Streitlust und Maßlosigkeit.

Die drei Gunas Sattva, Rajas und Tamas

Gleichzeitig wird die psychische Qualität unseres Lebens von den drei so genannten Gunas (frei übersetzt: Eigenschaften) tamas, rajas und sattva geprägt. Diese bestimmen, ob der Vata-Geist eher kreativ (sattva) oder chaotisch (rajas) ist, ein Pitta-Typ zu den workaholics (rajas) zählt oder nur gern arbeitet (sattva) und als Kapha-Typ geduldig (sattva) oder ignorant (tamas) ist. Das Ziel sollte sein, die eigene Dosha-Konstitution im möglichst sattvischen Zustand zu leben.

Doch das ist nicht so einfach, denn das moderne Leben in Deutschland ist stark von Pitta und Vata geprägt. Unser Alltag wird immer schneller und komplizierter. Die Arbeitswelt ist von Leistungsdruck bestimmt, unregelmäßige Arbeitszeiten oder mangelnde Anerkennung zehren an unserem Energiesystem. All dies führt zu einem eklatanten Kapha-Mangel, der abends häufig durch Süßigkeiten, Alkohol und Fernsehen auf „tamasische Weise“ kompensiert wird.

Teufelskreis der Tugenden

Nun werden uns aber paradoxerweise gerade die „deutschen Tugenden“ in diesem Teufelskreis zum Verhängnis: Eine verantwortungsvolle und zieleffiziente Pitta-Persönlichkeit ist darauf geeicht, Unzulänglichkeiten und Kritik durch Fleiß und Leistung zu begegnen. Je mehr Probleme es gibt, desto verbissener werden die Anstrengungen. Es kommt zum Burnout.

Die Natur bietet Ausgleich

Um einen gesunden Ausgleich der körperlichen und geistigen Kräfte herbei zu führen, sollten wir uns wieder auf andere Merkmale der „deutschen Seele“ besinnen: Das innige, nahezu romantische Verhältnis zum Wald, zur Natur! Hier finden wir die Ressourcen, die übersteigertes Vata mit Lebensenergie und Frieden erfüllen, das angespannte Pitta-Gemüt neu begeistern und eine Kapha-Belastungsfähigkeit mit starkem Immunsystem schaffen kann.

Lebenskräfte aktivieren wir, so banal es klingen mag, vor allem mit Entschleunigung. Mit einem guten Buch unterm Baum, beim Abendspaziergang im Wald oder während eines Aus-Zeit-Wochenendes (egal ob Meer, Berge oder Schrebergarten) erneuern sich die erschöpften Kapha- und Sattva-Kräfte.

Leben und genießen – statt nur zu arbeiten! Und wie das geht, können wir von anderen Ländern und Kulturen lernen: am besten bei gutem Essen im Kreis von geliebten Menschen – vielleicht gar mit Blick auf den Sonnenuntergang.


Heft 39 – Hormonelle Balance

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich als Titelthema in Heft 39 mit den Wechseljahren der Frau aus Ayurvedischer Sicht.