Die Göttersagen der indischen Mythologie sind reichhaltig und beflügeln unsere Fantasie. Wie Märchen verzaubern sie unsere Träume. In der nachfolgenden Geschichte begeben wir uns auf die Reise zu Brahma, dem Schöpfergott.

Neu und modern interpretiert von Irene Rhyner

Wenn Ihnen zufällig auf der Straße ein vierköpfiges Wesen entgegenkommt, welches mit wachen Augen in alle Himmelsrichtungen blickt und in seinen vier Händen eine Lotusblume, wichtige Schriftrollen, eine Kette und einen Opferkrug trägt, dann wird dies wahrscheinlich Brahma sein, der auf Erden wandelt und schaut, was mit den Menschen gerade so los ist.

Falls Sie sich von ihm beobachtet fühlen, dann rennen Sie nicht schreiend davon, sondern lächeln ihn an oder winken ihm sogar zu. Er wird es mögen. Schließlich sind Aktion und Reaktion seine Bestimmung und der Inhalt seiner Existenz. Es kann auch sein, dass ihm eine große weiße Gans folgt, die ihn trägt, wenn er müde wird. Das ist aber ganz normal und bedarf keiner Meldung an den Tierschutz.

Brahma gilt als der Schöpfergott unseres Universums. Man sagt, dass er für unsere Zeitrechnung verantwortlich ist. Wenn Brahmas Zeit vergeht, ist ein Schöpfungszyklus abgeschlossen und es entsteht ein neues Universum. Brahma ist der Gott der Bewegung, des Wachsens und steht in der universellen Energie der Triguna für das Prinzip von Rajas (Leidenschaftlichkeit). Die Drei-Einigkeit (Triguna) wird vervollständigt durch seine beiden Götterbrüder – Vishnu, den Erhalter des Lebens, und Shiva, der für die Zerstörung steht und damit Erneuerung möglich macht. Brahma gilt als der Organisator und wacht über die anderen indischen Götter. Er ist der CEO. Er selbst, so sagt man, wurde aus einem goldenen Ei der Weltenschlange Ashuka geboren, die im universellen Ozean schwimmt. Dort, sanft in einer Eierschale eingebettet, überdauerte der Embryo viele tausend Jahre. Nach einer ewig langen Zeitspanne erwachte er und sprengte die goldene Eierschale. Während dies geschah, erklang der heilige Urklang „Om“. Eine andere Geschichte erzählt, dass er aus Vishnus Nabel entsprang, als sich dieser auf der Weltenschlange treiben ließ. Aus dem Nabel wuchs plötzlich eine wunderschöne Lotosblume und aus dieser entstand Brahma. Wie das ganz genau war, lässt sich für mich leider nicht mehr nachvollziehen. Beide Entstehungsgeschichten sind auf jeden Fall spannend.

Tatsache ist: Brahma ist ein großartiger Gott! Er ist kreativ und phantasievoll. Er erschuf mit seinen Gedanken unser Universum, uns Menschen und unsere Natur. Als männliche Gottheit war er etwas wild unterwegs und dachte nicht immer nach, bevor er losbrüllte. Mit seinem Bruder Vishnu gab es immer wieder Streit. So stritt er sich mit Vishnu einmal darum, wem der größte Anteil bei der Erschaffung der Welt zustand. Er versuchte, mit Atemübungen  (Pranayama) seine Leidenschaft zu bezähmen. Bei einer dieser Übungen wurde ihm klar:

„Es fehlt mir die weibliche Seite!“ Da er ein Gott der Stunde war und nicht lange warten konnte, teilte er sich und erschuf aus sich selbst die Muttergöttin – Saraswati oder auch Gayatri genannt. Nun war dieses Weib auf einmal da und noch dazu so wunderschön geworden. Er konnte es selbst kaum glauben. Er war wirklich ganz und gar glücklich. Saraswati, die weibliche Seite von ihm, war gütig, liebevoll und schützte die Natur. Sie half ihm, unser Universum mit den schönen Dingen zu füllen. Dazu gehören auch Poesie, Kunst und Kultur.

Brahma war an vielem interessiert und sehr intelligent, er war belesen und kannte sich in den Geisteswissenschaften sehr gut aus. Als Zeichen, dass er gerne Wissen vermittelt, trägt er in seinen Darstellungen eine Schriftrolle in der linken oberen Hand. Er gilt auch heute noch als Schutzgott der Gelehrten (Brahmanen) und unterstützt diese bei ihrer Arbeit. In seiner rechten oberen Hand hält er eine Lotosblume. Diese symbolisiert die Geburt der Schöpfung, die Fruchtbarkeit und das Wachstum allen Lebens. Er trägt in seiner unteren rechten Hand eine Mala (Gebetskette) zur Rezitation von Mantras und Gebeten. Dies tut er, um darauf hinzuweisen, dass Meditation und Innehalten wesentlich sind, um die eigene Bestimmung zu finden und Kraft zu tanken. Der Bettelkrug in seiner unteren linken Hand steht als Zeichen, dass alles eigentlich nichts ist und nichts eigentlich alles bedeutet. Nur eine gewisse Zeitspanne steht uns in unserer gewählten Form zur Verfügung. Wir kommen mit nichts auf die Welt, verweilen dort eine gewisse Zeit und gehen mit nichts wieder von dieser Erde. Der Bettelkrug symbolisiert auch die Gleichheit aller Menschen vor dem Göttlichen.

Brahma ist aktiv, das ist seine Natur. Er ist kein Stubenhocker und stets darauf bedacht, dass sich alles weiterentwickeln kann. Leidenschaftlichkeit (Rajas) ist erforderlich, um die nötigen Impulse zu setzen, die uns voranbringen. Lernen, Umwandlung, Veränderung und Entdeckungen sind Gaben, die uns Brahma täglich schenkt. Er hilft uns, Dinge zu verstehen und schenkt uns Lebensfeuer, Lebensfreude und Lebensweisheit.

Om brahman namaha.


Heft 55 – Yoga & Ayurveda

Das Ayurveda Journal beschäftigt sich in dieser Ausgabe als Titelthema mit dem Schwerpunkt Yoga & Ayurveda.